Andrea Nahles: "Ich eine böse Fee? Blödsinn!"
Ihre Partei streitet um ihre Ausrichtung für die nächsten Jahre, sagt SPD-Linke Andrea Nahles. Für den aktuellen Schlamassel in der SPD will sie nicht verantwortlich gemacht werden.
taz: Frau Nahles, Sie sollen an dem ganzen Schlamassel der SPD schuld sein.
Andrea Nahles: Habe ich auch gelesen. Hat mich sehr amüsiert.
Angeblich haben Sie Kurt Beck die Idee mit dem Arbeitslosengeld I eingeflüstert.
Das ist Blödsinn. An den Haaren herbeigezogen.
Sie sind also nicht die böse Fee im Reich Ihres Parteichefs?
Als Fee habe ich mich, auch angesichts meines Körpergewichts, schon lange nicht mehr gefühlt. Das letzte Mal, glaube ich, bei der Kinderfastnacht vor dreißig Jahren bei mir zu Hause, in Weiler in der Eifel. Damals habe ich mich als kleine Fee verkleidet.
2005 galten Sie als "Königsmörderin" des damaligen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering. Jetzt wird Ihnen erneut schlechter Einfluss unterstellt. Wie erklären Sie sich das?
Hier werden Parallelen zwischen zwei Geschichten gezogen, die absolut nichts miteinander zu tun haben. Ich kann mir zwar ungefähr vorstellen, wie solche Gerüchte entstehen. Sie interessieren mich aber nicht.
Ihr öffentliches Bild kränkt Sie nicht?
Nein. Aus einem einfachen Grund: Ich habe gelernt, damit umzugehen. 1995, als ich mit 25 Jahren zur Juso-Chefin gewählt wurde, hätte mich so etwas noch umgehauen. Damals war ich die ersten Monate regelrecht schockiert, wie stark das Bild, das man von sich selbst hat, in den Medien verfremdet wird. Mittlerweile habe ich mir Gelassenheit antrainiert.
Können Sie uns erklären, was in der SPD in den vergangenen Wochen abgegangen ist? Ein Richtungsstreit? Ein Führungsstreit? Ein Machtkampf zwischen Beck und Müntefering?
Im Kern geht es um die Ausrichtung der Partei für die nächsten Jahre.
Aha.
Um darüber nachzudenken, war nach der Bundestagswahl 2005 einfach nicht genug Zeit. Wann, wenn nicht jetzt, vor einem so wichtigen Parteitag, sollten wir um die zukünftige Strategie für die SPD ringen? In zwei Jahren sind schon wieder Bundestagswahlen. Auf dem übernächsten Parteitag 2009 werden wir über unser Regierungsprogramm reden. Deshalb müssen wir heute die Weichen stellen. Das ist die Pflicht und vornehmste Aufgabe des Parteivorsitzenden.
Das ist alles? Deswegen haben sich Beck und Müntefering bis aufs Messer bekämpft?
Kurt Beck hat Vorschläge für die Politik der SPD gemacht, das ist sein gutes Recht. Und er hat Widerspruch geerntet, auch das ist nicht ungewöhnlich. Es war eine heftige Debatte, zweifelsohne. Das gehört zu einer lebendigen Partei dazu. Jetzt haben wir gemeinsam eine Entscheidung getroffen.
Rückt die SPD damit nach links?
Das ist nicht der Punkt.
Sondern?
Es geht um unsere Fähigkeit, mit den Menschen zu reden und ihre Sorgen ernst zu nehmen.
Muss die SPD dafür die Agenda 2010 korrigieren?
Diese Frage wird uns ja jeden zweiten Tag gestellt. Ich verstehe sie, ehrlich gesagt, nicht.
Warum nicht?
Die Agenda 2010 wurde 2003 beschlossen. Diese Reformprozess war notwendig. Die SPD hat ihn unter schwierigsten Bedingungen durchgestanden. Aber das heißt doch nicht, dass alles unhinterfragt bleiben kann. Dass wir an einigen Stellen nicht neue Überlegungen anstellen dürfen. Es geht darum, neue Spielräume für sozialdemokratische Politik in den nächsten Jahren zu schaffen.
Die Agenda 2010 sind nicht die Zehn Gebote, sagt Gerhard Schröder.
Da hat er recht. Das sehen übrigens alle so. Die Welt, besonders die Arbeitswelt, wandelt sich rasant. Mindestlöhne sind heute dringend erforderlich. 2003 waren sie noch nicht einmal Thema - in keiner Partei übrigens. Die Bilanz der Agenda ist janusköpfig, das müssen wir zugeben und offen ansprechen.
Bitte, tun Sie es.
Nur ein Beispiel: Die Grundidee von Hartz IV, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, war richtig. In diesem Zusammenhang wurden einzelne Sachleistungen wie neue Winterkleidung oder Schulsachen, die in der alten Sozialhilfe gewährt worden sind, in das Arbeitslosengeld II pauschal eingerechnet. Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob diese Lösung die beste ist. Möglicherweise könnten wir gerade armen Kindern besser helfen, wenn wir die Hilfe mit Sachleistungen gezielter einsetzen. Das ist eine an der Realität geschärfte Beobachtung. Nicht mehr und nicht weniger.
Die SPD will jetzt auch die Zahlung des Arbeitslosengeldes I an ältere Arbeitslose verlängern. Bedeutet dieser Vorschlag von Beck eine Abkehr von der Agenda 2010?
Nein. Das ist doch wieder eine dieser typisch deutschen Wahnsinnsübertreibungen.
Ihr Parteichef selbst erklärt diesen Punkt zu einer elementaren Frage sozialer Gerechtigkeit.
Da hat er auch recht. Und trotzdem: Die damalige Neuregelung des Arbeitslosengeldes I war ein wichtiger Aspekt der Agenda 2010, aber nicht ihr zentraler. Es ging in erster Linie darum, eine weit verbreitete Praxis der Frühverrentung älterer Arbeitnehmer zu beenden. Von einer Revision der Agenda könnte man nur dann sprechen, wenn wir mit unserem Vorschlag zu dieser Frühverrentungspraxis zurückkehren würden. Das ist aber nicht der Fall.
Diese Gefahr besteht nicht?
Nein. Wir haben eine ganze Reihe von Veränderungen geschaffen, die das unmöglich machen.
Warum ist es gerechter, wenn bestimmte Leute länger Arbeitslosengeld I bekommen?
Weil es ältere Bürger definitiv schwerer haben, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Die Arbeitslosenquote bei den 50- bis 65-Jährigen ist überproportional hoch. Das gilt trotz des positiven Trends der letzten Monate. Ganze 28,5 Prozent der Älteren, also nur die Minderheit, finden überhaupt eine neue Beschäftigung. Das ist kein gefühltes Unrecht, sondern eine echte Unsicherheit älterer Arbeitsloser. Darauf reagieren wir. Wir wollen den Älteren bis zu 24 Monate Arbeitslosengeld I zahlen. Das ist schlicht angemessen.
Brauchte Kurt Beck die ganze Debatte, um seine Macht in der SPD zu sichern?
Nein. Er stellt sich mit einem politischen Gesamtpaket dem Parteitag. Er gibt der SPD, wie andere Vorsitzende vor ihm auch, seine eigene Note. Das ist das, was man von ihm als Parteichef schlechterdings auch erwarten darf.
Beck ist die unumstrittene Nummer eins der SPD?
Auf jeden Fall.
Und ihr nächster Kanzlerkandidat?
Das entscheidet er zu gegebener Zeit selbst.
INTERVIEW JENS KÖNIG
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