Kommentar Vertriebenen-Zentrum: Vernunftvolles Erinnern
Die Abwahl der Regierung in Warschau, die jede Form der Erinnerung an Flucht und Vertreibung in Deutschland verteufelte, birgt Chancen für eine Zusammenarbeit beim Dokumentationsprojekt.
D as im Koalitionsvertrag festgelegte "sichtbare Zeichen", mit Hilfe dessen an Flucht und Vertreibung der Deutschen nach 1945 erinnert werden soll, nimmt jetzt erste Konturen an. Die Koalitionspartner haben sich auf ein Dokumentationszentrum in Berlin geeinigt, das ausschließlich vom Bund getragen und finanziert wird. Obwohl zahlreiche Klippen lauern, könnte dieses Projekt den erbitterten Streit um das vom Bund der Vertriebenen (BdV) initiierte "Zentrum gegen Vertreibungen" beenden.
Gegen letzteres Zentrum und die von ihm veranstaltete Ausstellung "Erzwungene Wege" bestehen nach wie vor grundlegende Bedenken, die sich gegen die politische Dominanz des BdV ebenso richten wie gegen die Tendenz, im Zeichen der "Europäisierung" des Vertriebenenschicksals im 20. Jahrhundert eine neue Ideologie zu konstruieren. Mit ihr würden die Spezifika des "deutschen Weges" und der mit ihr verbundenen deutschen Verantwortung eingeebnet. Umgekehrt gelang es der vom "Haus der deutschen Geschichte" veranstalteten Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration" durch die Konzentration auf das Deutschland der Nachkriegszeit, ein detailreiches, realistisches, oft bewegendes, aber nie emotional überwältigendes Bild zu zeichnen, das noch dazu in ein "Happy End" mündete, nämlich in die schließlich geglückte Integration der Vertriebenen in das Nachkriegsdeutschland. Auch fehlte nicht der Nachweis der friedens- und entspannungsfeindlichen Politik des BdV. Auf dieser Ausstellung soll das beschlossene Dokumentationszentrum aufbauen.
Die Abwahl der nationalistischen Rechts-Regierung in Warschau, die jede Form der Erinnerung an Flucht und Vertreibung in Deutschland als Geschichtsrevisionismus verteufelte, birgt Chancen für eine polnisch-deutsche Zusammenarbeit bei dem Dokumentationsprojekt. Die erfolgreiche Arbeit der gemischten Schulbuchkommissionen zeigt, "wie es geht". Voraussetzung ist allerdings, dass die Opfer-Mythologen und Geschichtspolitiker beiderseits der Oder an dem künftigen Beratertisch für das Zentrum Platz nehmen müssen. Aber keinen Einfluss auf die endgültige Gestalt nehmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Resolution gegen Antisemitismus
Nicht komplex genug