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Einheitskinder werden 18Frei geboren

Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Maria, Tom und Julia wurden an dem Tag geboren, als ein Teil der deutschen Geschichte endete.

Die Novemberkinder: Maria, Julia und Tom. Bild: markus engert

Als wir nach Grimmen kommen, versagt das Navigationssystem. Die kleine Antenne auf dem Handy hat einen Strich. Angewiesen auf Passanten und die alte geschundene Deutschlandkarte kämpfen wir uns durch. Die Gegend ist dünn besiedelt, zweimal falsch abbiegen und wir stehen mitten im Feld. Maria mag das. Sie geht gern spazieren, mag den Wind und die Wiesen.

Wir sitzen im Wohnzimmer bei Familie Seidel. Vor uns: das Familienalbum. Regina Seidel erzählt uns vom diesem 9. November 1989, dem Tag, als ihre Tochter in Greifswald auf die Welt kam. Kurz nach der Geburt stürmt die Schwester in den Kreißsaal: "Frau Seidel, wissen sie was passiert ist, die Mauer ist gefallen. Ich sag, dass glaub ich gar nicht. Doch, das ist so, haben sie grad im Fernsehen gesagt." Der erschöpften Frau war es schlicht egal. "Schön! Ich sitz hier und freu mich über mein Kind", kommentierte sie trocken.

Damals war die Welt für die Familie noch in Ordnung: Leonhard Seidel, der Vater, hatte noch einen festen Job. 1990 wurde er dann das erste Mal arbeitslos, ein Jahr später auch seine Frau Regina. Sie ist es bis heute. Leonhard Seidel jobbt seitdem, erst malochte er in einem Baustofflager, dann arbeitete er als Heizungsbauer, inzwischen fährt er einen Lkw.

Die Seidels sagen, würden sie beide Hartz IV empfangen, ginge es ihnen besser, rein finanziell. In der DDR wurde in der Stadt Grimmen Öl und Gas gefördert. Nach der Wende war es dann vorbei mit der subventionierten Ölförderung. Heute leben 11.000 Menschen hier, ganze 3.000 sind seit 1990 gegangen. In Grimmen kommen heute auf einen Quadratkilometer nur knapp 200 Einwohner.

Maria will trotzdem bleiben. Sie ist gut in der Schule, aber studieren mag sie nicht. Auch die Eltern sagen, dass dies finanziell nicht möglich sei. Maria will irgendwas Kreatives machen, am liebsten eine Ausbildung bei einem Fotografen. Auf jeden Fall nicht von hier weg aus der Einöde. Sie spielt gern Gitarre, und im Orchester die Querflöte. Das Orchester hat sie raus gebracht, raus aus Grimmen. Mit den Musikern war sie in Lettland, Estland, Litauen und Bayern. Mit ihrer Familie war sie schon lange nicht mehr im Urlaub. Vor drei Jahren war sie mit ihrer Mutter in Berlin, eingeladen von einem privaten Fernsehsender. Damals hatte auch eine andere Zeitung über sie geschrieben. Sie, die am Tag des Mauerfalls auf die Welt kam. Auch die Lokalpresse zog dann nach. Damals stand überall, der Vater habe die NPD gewählt. Wie fast 7 Prozent hier. Heute würden die Seidels so etwas nicht mehr zugeben. Sie suchen ihre Worte mit Bedacht, legen kurze Denkpausen vor ihren Antworten ein. Auch Maria sagt keinen Satz zu viel. Wenn die Seidels von früher reden, benutzen sie Wörter wie "hüben" und "drüben". In ihrem Zimmer zeigt Maria, was ihr wichtig ist. Ihre Gitarre, ihre Querflöte, ihre Eckcouch, die sie sich so gewünscht hatte. Sie glaubt, dass sie ihr musisches Talent von den Großeltern hat. Von den Eltern jedenfalls nicht.

Von denen hat sie ihren Glauben. Maria ist katholisch, sie betet oft, sagt sie, und geht sonntags in die Kirche. Das ist ihr sogar wichtiger als ihr Freund: seit einem haben Jahr sind sie nicht mehr zusammen. "Das ist auch eher ein Tabuthema. Kirche, Gott und die Religion, das ist eigentlich immer schon ein Teil von meinem Leben gewesen", sagt sie, und stockt. "Da halt ich mich dann schon dran." In ihrem Jugendzimmer steht kein Computer. Alle Harry-Potter-Bände im Bücherregal. Keine CDs, kein MP3-Player. Nicht einmal Musikposter an der Wand.

oms Vater sitzt im Wohnzimmer, auf dem Tisch zwei Laptops. Es ist nicht sein leiblicher Vater. Die Ehe der Eltern hat die Wende nicht überlebt. Tom Günters leiblicher Vater war Journalist und ein angesehenes Mitglied der DDR-Gesellschaft. Nach dem Mauerfall arbeitete er als Gebäudereiniger. "Die Ostdeutschen waren nach dem Mauerfall sozial sehr mobil, aber meistens nach unten. Gut 25 Prozent von ihnen gelten als Wendeverlierer", erklärt Elmar Brähler, Jugendforscher aus Leipzig.

Als Tom am 9. November 1989 im Volkspolizei-Krankenhaus am Checkpoint Charly in Berlin um 18 Uhr geboren wird, stammelt Günter Schabowski, SED-Funktionär, auf einer Pressekonferenz hin und her. Auf Nachfrage erklärt er: "Das tritt nach meiner Kenntnis ist das sofort. Unverzüglich." Mit diesen unverständlichen Wortfetzen meint Schabowski die neuen Ausreiseregelungen der DDR, ab sofort konnte jeder über die Grenze. Um 20 Uhr werden Ausschnitte der Konferenz in der "Tagesschau" gezeigt. Wenige Stunden später öffnen die Offiziere der Passkontrolleinheit an der Bornholmer Straße die Grenze.

Für Tom bedeutet dieser Tag nicht viel. Es ist halt sein Geburtstag. Aus seiner Sicht ist die Teilung Deutschlands längst vorbei. Ost- und West sind für ihn nur noch Worthülsen. Tom glaubt, es gibt keine Unterschiede mehr. Wir sitzen in Toms Zimmer, unten im Keller des Einfamilienhauses. Als wir ihn nach dem Bild an der Wand fragen, erzählt er vom Westen. Von seiner Freundin. Sie ist wegen einer Ausbildung nach Marburg gegangen. Er selbst hat seine Ausbildung zum Ergotherapeuten gerade abgebrochen. Es war ihm alles zu viel. Wie es weitergehen soll, weiß er noch nicht. Vielleicht etwas Kreatives, Maler, oder Lackierer. Oder was mit Sprachen könnte er sich auch vorstellen.

Planen findet er jedenfalls doof. Planen ist erwachsen sein. Tom will aber nicht erwachsen werden, er liebt das Chaotische und das Kindische. Das einzige, worauf er sich freut, sind die Dinge, die er jetzt mit 18 machen darf: "Erwachsenen-Filme sehen und in Erwachsenen-Läden gehen". Für Tom soll alles "gediegen und entspannt" sein - auch seine Zukunft. Wie die aussehen soll, weiß er noch nicht. Aber mit 36 hätte er schon gern ausgesorgt: ein eigenes Haus, ein Hausboot, eine Frau und zwei Kinder.

ulia Marquard lernt im 400 Kilometer entferntem Frankfurt am Main Japanisch. Schwedisch und Spanisch kann sie schon. Von ihrem Schreibtisch schaut sie ins Grüne. Es ist eine ruhige Gegend mit sanierten Altbauten. Ihre Mutter arbeitet beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels,ihr Vater bei der Deutschen Bank. Julia sagt, sie ist ein ehrgeiziges Kind. Wir fragen Julia nach ihren Erinnerungen an die DDR. Und dann erzählt sie uns von ihrer ungewöhnliche Familiengeschichte: Julias Mutter Renate floh 1961 mit den Großeltern - aus der BRD in die DDR. Julias Großvater war Mitglied in der KPD, die seit 1956 verboten war. Die DDR bot der Familie Asyl. Zehn Jahre lebte Renate Marquard freiwillig in einem Staat, der für so viele andere ein Gefängnis war. Julia hat deshalb ein eigenes Bild von der DDR: "Ich hab das nie verstanden, warum Kommunismus in der DDR immer als was Schlechtes dargestellt wird. Für mich war DDR immer so ein Land, was Schutz geboten hat, besonders meinen Großeltern, die sonst verhaftet worden wären."

Für Julias Mutter ist die DDR Heimat geworden und, wie sie sagt, bis heute geblieben. Sie haben noch immer Verwandte dort. Für Julias Geburt hatten die extra eine Ausnahmegenehmigung erhalten.

Die war am 10. November nicht mehr notwendig. Julia ist stolz auf ihren Geburtstag, auf den Tag des Mauerfalls. Dieser Tag sollte aus ihrer Sicht viel mehr Bedeutung erhalten.

Vor kurzem war sie in New York. Sie sagt, in Amerika wäre solch ein historisches Ereignis sofort der Nationalfeiertag. Die Deutschen, findet sie, machen sich viel zu klein. Auch die Fahnendiskussion vor, während und nach der Fußball-WM hat sie nicht verstanden.

Während ihre Mutter Bauchschmerzen hatte, eine Deutschlandfahne rauszuhängen, war das für Julia kein Problem. Im Gegenteil: Die Zeit während der WM war für Julia eine Vision, eine Art Lebensentwurf. Sogar die Lehrer hätten weniger Hausaufgaben aufgegeben.

Jetzt, wo sie volljährig wird, denkt sie öfter über Politiker, die Rente und ihre eigene Zukunft nach. Ihr ist aufgefallen, dass ihre Eltern immer später nach Hause kommen. Aber am meisten ärgert sie in Deutschland die Ungerechtigkeit. Unterschiedliche Löhne in Ost- und West, aber auch unterschiedliche Löhne für Männer und Frauen. Julia ist eine emanzipierte junge Frau. Sie findet, in Deutschland gibt es keine Gleichberechtigung. Für sie eine Unverschämtheit.

Große Firmen werden von Männern geleitet, und sie überlegt sich, ob sie es denn einmal bis ganz nach oben schaffen kann. Sie hat Angst davor, dass die Männer dann irgendwann doch noch eingreifen. Und manchmal sehnt sie sich einfach zurück in ihre Kindheit.

Mit ihrer Freundin träumt sie dann von unbeschwerten Sandkastenspielen, von Familienausflügen an die Nordsee und dem Keksebacken mit Oma. Doch jetzt wird sie genau wie das wiedervereinte Deutschland erwachsen.

Ihrer Generation stehen so viele Wege und Möglichkeiten offen wie noch nie. Freiheit heißt eben auch, sich entscheiden.

Ob sie das gut oder schlecht finden soll, weiß Julia noch nicht.

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2 Kommentare

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  • DA
    die Autoren

    mehr zu Freiheit vs. Erscheinen und dem Bezug zu "dieser" Generation, interessant hier:

    http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/323259

  • A
    A.Z.

    Ich persönlich glaube nicht, dass das Entscheiden integraler Bestandteil der Freiheit ist, wie so oft behauptet wird. Es ist, scheint mir, lediglich eine Möglichkeit von vielen ? und außerdem völlig unabhängig vom Freiheitsgrad einer Gesellschaft.

     

    Für viele Menschen in diesem Land und ganz besonders für viele junge Leute bedeutet Freiheit offenbar vor allem, Forderungen stellen zu dürfen. Jungen wie Tom, der zwar nicht erwachsen sein oder gar planen möchte, der sich aber trotzdem eine gediegene und entspannte Zukunft wünscht, gibt es wohl (in allen Altersgruppen) erstaunlich viele. Ein Zeit-Leser, der sich selbst ?Stereonichts? nennt, outet sich beispielsweise im Internet als Alltags-Verächter und wünscht sich (in dem Fall von der Literatur) das Neue, das Fantastische, das Surrealistische, auf dass ihm ein Funke Hoffnung werde in einer seiner Meinung nach all zu nüchternen Realität. Nichts gegen das Fantstisch-Surreale, schon gar nicht in der Literatur, aber gegen Perspektivlosigkeit, so viel weiß man inzwischen, hilft es eher weniger.

     

    Mein Problem mit den Toms und Stereonichtsen dieser Welt ist: Sie erwarten alles von anderen und nichts von sich selbst. Wenn ihre Erwartungen (die sie häufig auch noch mit Entscheidungen verwechseln) nicht erfüllt werden, kommen sie mitunter auf ganz seltsame Ideen. All zu oft lassen die Passiv-Wünschenden ihren aus der unterbliebenen Wunscherfüllung resultierenden Alltags-Frust an Leuten aus, die auch nicht besser dran und trotzdem bereit sind, aktiv zu werden. Dann, finde ich, wird es bedenklich. Hier endet meiner Meinung nach die Freiheit des Einzelnen. Ein Recht auf ein fremd bedientes Leben als gelangweilter Snob gibt es nicht. Selbst dort nicht, wo es die Freiheit gibt, sich dafür zu entscheiden.

     

    Dass ich mich hier wie ein Erziehungsberechtigter anhöre, ist mir klar. Das kann aber durchaus damit zusammenhängen, dass ich erziehungsberechtigt bin. Ob das gut oder schlecht ist, weiß ich nicht. Was ich allerdings weiß ist: Für meinen Geschmack ist allein der Umstand schon surreal genug.