Frühkindliche Sexualerziehung: Wege aus der Pullermannkrise

Damit Kleinkinder eine unbedarfte, positive Sprache für ihre Sexualität finden, sind Worte wie Pullermann und Zizi sind ideal. Sagen Aufklärungsprofis. Ein Bischof sieht das anders.

"Du Schwulie" nennen Sechsjährige einen Jungen, der Barbies frisiert. Was schwul sein bedeutet, wissen sie meist nicht. Bild: dpa

Fuldas Bischof Algermissen hat zum Boykott des Kindermusicals "Nase, Bauch und Po" aufgerufen - wegen dieser Lieder:

"Ja, das ist mein Pullermann, mit dem ich prima pullern kann, da hängen noch zwei Kullern dran, … da sind ganz viele Samen drin, … und wenn ich mal erwachsen bin mit meiner Frau allein, dann haben wir uns lieb im Bett … und dann kriegen meine Frau und ich so viel Kinder, wie wir wolln."

"Wir haben eine Scheide, denn wir sind ja Mädchen, na na … Sie ist hier unter meinem Bauch, zwischen meinen Beinen. Sie ist nicht nur zum Pullern da, und wenn ich sie berühr, ja, ja, dann kribbelt sie ganz fein. Und später kommen da Kinder raus, hat Mama mir erzählt."

Die Musiker singen vom "Pullermann", der auch "Buhbuh" heißt, von "Kullern", die in Säckchen baumeln: Seit vier Jahren schon tingelt das Aufklärungsmusical "Bauch, Nase, Po" durch Säle und Kindertagesstätten. Vor wenigen Tagen aber kam es zum Eklat. Entzürnt rief Fuldas Bischof Heinz Josef Algermissen die Gläubigen zum Bühnenboykott. Zu einseitig richte das Singstück "Sexualität auf körperliche Zusammenhänge" aus.

Der Fuldaer Geistliche ist nicht der Einzige, der sich derzeit über Fragen kindlicher Sexualbildung ereifert. Im Juli zog das Familienministerium eine Broschüre aus dem Vertrieb, die Experten zwar für unbedenklich halten - an deren Sicht auf "Doktorspiele" sich jedoch einige störten. In beiden Fällen - beim Heftchen wie beim Musikstück - ist es die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzGA), die den Inhalt verantwortet.

Diese Beispiele werfen ein Schlaglicht auf die Frage, wie Sexualität im Kindergarten behandelt werden sollte. Vor allem aber zeigen sie, wie wenig selbstverständlich das Thema auch im aufgeklärten 21. Jahrhundert ist. Selbst die Profis sind oft ratlos. "In der Ausbildung der Erzieherinnen ist das noch zu wenig präsent", sagt Eckhard Schroll, der bei der BzGA für Sexualerziehung zuständig ist. "Auch Eltern denken oft: Das reicht ja, wenn ich mit meinem Kind in der Pubertät darüber spreche."

Teil des Problems ist ein tradierter Irrtum. Noch in den Achtzigern galten Kinder oft als asexuelle Wesen, die Geschlechterfragen nicht betreffen. Dieses Denken ist noch längst nicht vergessen. Teil des Missverständnisses sei es auch, sagt Schroll, dass "Erwachsene ihre Vorstellungen von Sexualität eins zu eins auf Kinder übertragen".

Dabei kreist kindliche Sexualität nicht um Orgasmen und genitale Lust. Zwar erforschen die Kleinen - unverkrampft und unbelastet von Moralfragen - ihren Körper. "Vor allem aber geht es Kindern um Kuscheln und Toben, um Zuneigung, Scham und Eifersucht", sagt Schroll.

Mittlerweile sind sich Psychologen darin einig, dass die Art, wie ein Erwachsener seine Sexualität lebt, maßgeblich schon in diesem frühen Alter geprägt wird. Sie erlernen Grundbegriffe: Was möchte ich, was darf ich, wo setze ich Grenzen? Sie sollten lernen, dass sie nicht jede alte Tante küssen müssen. Und dass es in Ordnung ist, wenn ein Mensch, der einen liebt - wie Vater oder Mutter -, mal keine Lust auf Kuscheln hat, dass dies ihr gutes Recht ist und kein Liebesentzug.

Laut dem Psychologen Tim Rohrmann sind es gerade Jahre zwischen drei und sechs, in denen Kinder viel über ihre Identität lernen. Mit drei Jahren wissen sie in der Regel, dass sie Junge oder Mädchen sind. Sie wissen aber noch nicht, dass dies auch so bleiben wird. Und dass es etwas mit Geschlechtsorganen zu tun hat. Die Kinder orientieren sich eher an anderen Äußerlichkeiten: Männer sind die mit der rauen Haut, Frauen sind die mit der hohen Stimme. Im Laufe der Kindergartenzeit werden die Vorstellungen dann präziser. Mit fünf oder sechs wissen Kinder, dass Mannsein oder Frausein etwas Unabänderliches ist. Sie lernen, dass es verschiedene Sprachebenen für sexuelle Vorgänge gibt, dass manche zärtlich sind und manche ein Schimpfwort. Und sie lernen, dass es viele Eigenschaften und Verhaltensweisen Männern und Frauen unterschiedlich zugeordnet werden. Ein zweijähriger Junge macht noch gerne beim Ballett mit. Ein Fünfjähriger sagt: Nee, da sind ja nur Mädchen, und alle tragen sie Rosa. "Sechsjährige haben oft rigide Vorstellungen im Sinne von: Männer fahren Auto, Frauen kochen", sagt der Braunschweiger Jungenforscher Rohrmann.

Schon Sechsjährige beschimpfen einen Jungen, der Barbies frisiert, als "du Schwuli". Sie haben zwar noch wenig Vorstellung davon, was Schwulsein überhaupt ist. Aber sie haben beobachtet, dass "Puppen kämmen" etwas ist, dass manche Erwachsene als nicht jungsgemäß betrachten - und belegen es dann mit nebulösen Worten.

Umso wichtiger werten es Experten, dass Erzieherinnen die Fragen der Kinder offen beantworten. Die Realität aber sieht anders aus. ErzieherInnen seien oft angesichts der diffusen gesellschaftlichen Regeln verunsichert, schreibt Lilian Fried, Expertin für frühkindliche Pädagogik an der Uni Dortmund, in einem Aufsatz. Ihnen sei unklar, wie sie sich etwa gegenüber Doktorspielen verhalten sollen. Oft wüssten sie sich nicht anders zu helfen, als wegzusehen. Sie schreckten davor zurück, auf sexuelle Praktiken bei jüngeren Kindern positiv zu reagieren.

Für Rohrmann ist das auch ein grundsätzliches Problem. Er kritisiert, dass Sexualität im Kindergarten oft erst dann behandelt wird, wenn es Probleme gibt. "Ich finde es ganz fatal, wenn das Erste, was Kinder zum Thema hören, der sexuelle Missbrauch ist", sagt Rohrmann. Oder wenn über Sex erst geredet wird, wenn ein Kind den Sandkastenkumpan mit "du Wichser" begrüßt. Besser sei es, für Vorgänge, die man vor Kindern sowieso nicht verbergen kann, eine altersgemäße Sprache zu entwickeln. "Auf undramatische, beiläufige Weise eine positive Sprache für Geschlechtsorgane und sexuelle Vorgänge zu entwickeln", nennt das Rohrmann. Auch Schroll bemängelt, dass die Missbrauchsdebatte der Neunziger, so hilfreich sie in vieler Hinsicht war, einen Aspekt unter den Tisch hat fallen lassen: "Es fehlte das positive Pendant, das Jasagen zu Dingen, die man mag", sagt Schroll.

Der derzeit bekannteste Versuch, das zu ändern, tourt diesen Monat durch Brandenburg. Das Kindermusical ist gut gebucht. Heute zum Beispiel werden die Lieder von Pullermann und Po in der "Inselhalle" in Eisenhüttenstadt erklingen. Sexualaufklärung zum Gitarren-schramm-schramm - das ist immerhin ein Anfang.

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