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Französischer DebütfilmDas Reh und die Löwin

Kommt den Figuren nie zu nahe und erzielt gerade deshalb Präsenz: Jeanne Waltz Regiedebüt "Pas Douce". In der Hauptrolle beeindruckt Isild Le Besco.

"Ich bin nicht zärtlich." Fred (Isild Le Besco) mit einem Liebhaber. Bild: kinopresseservice

So wie Fred auf ihrem Fahrrad über die Landstraße brettert, stier und voll Wut, will man ihr besser nicht zu nahe kommen. Ihre Kollegen im Krankenhaus, wo sie als Pflegerin arbeitet, wissen das bereits. Morgens rauscht sie auf dieselbe ungestüme Weise durch die Flure. Oder sie entleert auf dem örtlichen Schießstand das Magazin ihres Sportgewehrs. Vor nicht allzu langer Zeit noch war Fred eine erfolgreiche Schützin in dem kleinen Städtchen an der französisch-schweizerischen Grenze, aber ihre fahrigen, abrupten Bewegungen, mit denen sie sich ihren Mitmenschen und ihrem autoritären Vater entzieht, lassen Zweifel aufkommen, ob eine Waffe in der Hand des Mädchens gut aufgehoben ist. Unwillkürlich beschleicht einen das Gefühl, dass Fred nicht nur für ihre Umwelt, sondern vor allem für sich eine Gefahr darstellt.

Isild Le Besco ist in der Rolle der 24-jährigen Fred ein Ereignis. Im Grunde glänzt sie in Jeanne Waltz Debütfilm "Pas Douce" durch vollkommene Abwesenheit. Aber gerade diese Entrücktheit verschafft ihr eine raumfüllende Präsenz, die sich in kleinen Gesten und tiefschürfender Leere genügt. Le Bescos verhangener Blick, der kaum etwas von ihrem Innenleben preisgibt, schlägt nicht nur den Zuschauer in seinen Bann. Auch die männliche Dorfbevölkerung findet Gefallen an dem Mysterium, hinter dem die Figur ihre Verletzlichkeit und Frustration verbirgt. Einmal geht sie mit zwei Thekenbekanntschaften nach Hause. Aber der Sex, den sie mit den Männern hat, ist bemüht und lustlos. "Kannst du nicht ein bisschen zärtlicher sein?", beschwert sich einer ihrer beiden Liebhaber. "Hast du gehört", sagt sie zu dem anderen, "ich bin nicht zärtlich." Nicht zärtlich - das ist die Übersetzung von "pas douce". Doch nur selten sieht man einen Film, der sich mit so viel Verständnis und Nachsicht seiner Figur nähert, ohne sie psychologisch durchdringen zu wollen. Scheu wie ein Reh irrt Fred durch den Film, dabei hat sie das Herz einer Löwin. All diese Widersprüche vereint Le Besco intuitiv in ihrer Rolle. Man kann nicht einmal behaupten, dass sie Fred wirklich spielt; in ihren stärksten Momenten scheint sie die Kamera regelrecht zu meiden.

Vielleicht ist es daher kein Wunder, dass ausgerechnet ein Teenager Zugang zu Fred findet. Auch Marco leidet - wie wohl jeder Teenager - unter Frustrationen und Ängsten, dazu drangsaliert er seine Umwelt mit unkontrollierten Wutausbrüchen. Dass er in die Obhut Freds kommt, scheint eine Schicksalsfügung zu sein, denn sie selbst hat ihm die Schusswunde beigebracht, deretwegen er ins Krankenhaus eingeliefert wird. Eigentlich ist sie in den Wald gegangen, um sich umzubringen, aber da war noch genug Wut in ihr, Wut auf die anderen, dass sie sich in letzter Sekunde anders entschied und im Affekt auf einen Jungen schoss, der mit einer Zwille auf Vögel zielte. Marco. Es ist das erste Mal, dass sie sich mit den Konsequenzen ihres Handelns direkt konfrontiert sieht, und zögerlich nimmt sie sich der Verantwortung an. Die Wutausbrüche des Jungen kommen ihr nur zu vertraut vor, und auch Marco scheint Vertrauen zu derjenigen zu schöpfen, die seine Launen so gelassen hinnimmt. Durch ihre Freundschaft scheint Fred mit sich ins Reine zu kommen. Langsam dämmert ihr, dass sie sich nur ändern kann, wenn sie auch die Verantwortung für ihre Fehler akzeptiert.

In den Szenen zwischen Fred und Marco zeigt sich Waltz seltene Gabe, zu beobachten, ohne zu intervenieren, besonders schön. Die respektvolle Distanz, die sie zu ihren Figuren hält, schlägt sich auch formal im Film nieder. "Pas Douce" begnügt sich nie mit Gemeinplätzen, noch erhebt der Film Anspruch auf letztgültige Wahrheiten. Waltz belässt es meist bei kurzen Eindrücken, die sie wie Miniatur-Porträts lose nebeneinander stehen lässt. Identifikationsangebote an den Zuschauer sind ihre Sache nicht. Sie kämen auch einem Verrat an ihren Figuren gleich. Kein Bild ist in "Pas Douce" zu viel, kein Wort überflüssig; Regisseurin und Darstellerin scheinen eine stille Übereinkunft gefunden zu haben. Schauspieler können gar nichts falsch machen, hat John Cassavetes einmal gesagt, weil sie immer Menschen bleiben. Sieht man sich Isild Le Besco mit ihrem trotzig aufgeworfenen Schmollmund in diesem sagenhaft undurchdringlichen Gesicht an, erkennt man die ganze Weisheit seines Satzes.

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