Frankreich droht kompletter Stillstand: Der Streik der Höflichen

Rudy Canvot ärgert sich. Darüber, dass die Regierung seine Lebensarbeitszeit verlängern will. Darum lässt er ab Mittwoch seinen Bus stehen und schließt sich dem Streik an.

Rien ne vas plus: So sehen Bahnstreiks in Frankreich aus. Bild: dpa

Knapp vier Wochen nach dem eintägigen Warnstreik im Transport- und Energiesektor in Frankreich beginnt am Mittwoch ein unbefristeter Streik. Fast alle Gewerkschaften bei der Bahngesellschaft SNCF, bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben sowie bei den Strom- und Gaswerken und bei Post und Telekom rufen dazu auf. Sie protestieren damit gegen die Abschaffung der seit 1945 bestehenden Sonderrenten in öffentlichen Betrieben. Aus gewerkschaftlicher Sicht hat die französische Regierung nach dem massiven Streik vom 18. Oktober nicht die geringste Verhandlungsbereitschaft gezeigt. Dienstag sah es so aus, als würde Frankreich von Mittwoch an komplett zum Stillstand kommen. Falls der Streik so lange dauert, wird er am kommenden Dienstag Verstärkung aus dem öffentlichen Dienst bekommen. Dann treten auch die LehrerInnen und BeamtInnen in den Ausstand gegen die geplante Verlängerung ihrer Lebensarbeitszeit sowie gegen zigtausendfache Personalstreichungen. Parallel dazu sind immer mehr Hochschulen durch StudentInnen blockiert, die sich gegen eine Teilprivatisierung der Hochschulfinanzierung wehren. Weitere Protestfronten entstehen bei der Polizei, wegen Arbeitsüberlastung, und bei AnwältInnen und RichterInnen, wegen der geplanten Schließung von zahlreichen Provinzgerichten.

Für Staatspräsident Nicolas Sarkozy ist der Mittwoch beginnende Streik eine Machtprobe. Sein Regierungschef François Fillon hat bereits angekündigt, dass die Sonderrenten "auf jeden Fall" kippen werden. Die große Mehrheit der Medien, aber auch die meinungsbefragte Mehrheit der FranzösInnen steht vorerst hinter dem Staatspräsidenten. Doch die Erfahrung von 1995, als ein dreiwöchiger Streik eine geplante Rentenreform zu Fall brachte, zeigt, dass ein Streik die Stimmung in Frankreich radikal ändern kann.

"Wir können uns nicht alles gefallen lassen", seufzt Rudy Canvot: "Wir haben Rechte. Wenn wir die heute nicht verteidigen, werden morgen noch mehr gestrichen werden." Heute wird er streiken. Morgen vielleicht auch, "weil mit dieser Regierung ein einziger Streiktag überhaupt nichts bringt". Und Übermorgen und an den Folgetagen wird er bei der Vollversammlung in seinem Bus-Depot weiter sehen - wie die überwiegende Mehrheit seiner Kollegen in den französischen Verkehrsbetrieben. Vordergründig geht es darum, die Rentenregelungen zu verteidigen. Aber im Hintergrund schwingt alles Mögliche mit: von den immer härteren Arbeitsbedingungen über die sinkende Kaufkraft bis hin zu der Wut auf die Verdreifachung des Salärs, die sich Staatspräsident Nicolas Sarkozy gerade selbst bewilligt hat.

Rudy Canvot ist machiniste. Einer von 12.500 Busfahrern der Pariser Verkehrsbetriebe RATP, die stolz eine Berufsbezeichnung von der vorletzten Jahrhundertwende tragen, als die Kutschen von Pferden auf Maschinenantrieb umstellten. Er ist alles andere als ein Radikaler. "Widerstand" ist für ihn kein Wert an sich. Er gehört keiner Gewerkschaft an. Definiert sich politisch als "weder rechts noch links". Und er sagt Sätze wie: "Zu viel Soziales ist nicht gut für das Soziale." Im ersten Durchgang der letzten Präsidentschaftswahlen hat er den Rechtsliberalen François Bayrou gewählt. Im zweiten gab er seine Stimme Ségolène Royal. Über Staatspräsident Sarkozy sagt Rudy Canvot, dass er "nichts" gegen ihn habe.

Das Problem ist, dass Sarkozy ihn jetzt in einen Streik treibt, den Rudy Canvot weder gesucht noch gewollt hat. "Jeder Streiktag kostet mich 80 Euro", sagt er. Bei 1.600 Euro Monatslohn vor dem Steuerabzug, einem Auto, das noch lange nicht abbezahlt ist und sechs Wochen vor Weihnachten, wenn Geschenke für die Lebensgefährtin und das Töchterchen anstehen, ist das ein hoher Preis. Zumal niemand sagen kann, ob irgend etwas Positives für die Streikenden herauskommen wird. "Leicht wird es nicht", befürchtet Rudy Canvot, "Sarkozy will beweisen, dass er das Sagen hat. Er wird alles tun, um nicht nachzugeben."

Neulich ist eine Passagierin zu ihm in den Bus PC2 gestiegen und hat "Courage" zu dem machiniste Rudy Canvot gesagt. "Wenn ihr euch nicht gut schlagt, müssen wir demnächst alle 45 Jahre arbeiten." 45 Beitragsjahre bis zur Rente ist die gegenwärtige Zielvorstellung des französischen Unternehmerverbandes Medef. Nicht nur wegen solcher Worte geht der machiniste heute mit einem Gefühl von Verpflichtung in den Streik. "Die Alten haben die Rente 1995 verteidigt", begründet er, "sie haben 22 Tage durchgehalten. Und dafür monatelang mit niedrigeren Löhnen gebüßt. Jetzt sind sie in Rente. Und wir sind an der Reihe."

Jener letzte große Transportstreik in Frankreich ist für Rudy Canvot graue Vorzeit. Damals konnten die Streikenden eine "Rentenreform" verhindern, die dem, was jetzt geplant ist, zum Verwechseln ähnelte. Rudy Canvot war 15 und ging zur Schule. Sieben Jahre später heuerte er bei der RATP an. Der Sohn eines Antillaners und einer Afrikanerin hatte exakt das Profil, das das Pariser Transportunternehmen suchte: jung, Angehöriger einer Minderheit. Freundlich. Die Aggressionen gegen Busfahrer nahmen zu. Mit neuen Gesichtern und einer neuen Generation am Lenkrad wollte die RATP ihr Image modernisieren. Umgekehrt ließ sich Rudy Canvot von den Sozialleistungen des Transportunternehmens locken.

Die relativ guten Löhne bei der RATP gehören der Vergangenheit an. Ein machiniste in Paris verdient inzwischen weniger als die Busfahrer in vielen Provinzstädten. Als nächstes will Sarkozy jetzt die Rentenregelungen bei der RATP, bei der Eisenbahn und bei den Gas- und Elektrizitätswerken kippen. Wer im Schichtdienst mit ständig wechselnden Arbeitszeiten tägig ist, hat alle fünf Jahre ein Anspruch auf ein "Bonusjahr". Mit dieser "Sonderregelung" haben die machinistes ihre 37,5 Berufsjahre, die zum Bezug der vollen Rente nötig sind, bereits nach 32,5 Dienstjahren erreicht. Im günstigsten Fall können sie mit 53,5 Jahren in Rente gehen und ihre vollen Bezüge in Höhe von 75 Prozent erhalten. "Natürlich kann man auch noch mit 60 einen Bus fahren", sagt Rudy Canvot, "aber die Reflexe sind nicht mehr dieselben. Und der psychische Stress wird mit den Jahren immer härter."

"Bonjour", sagt der machiniste zu jedem neuen Passagier, der zu ihm in den Bus steigt. Die "Beziehungen zu den Nutzern" ist eines der wichtigsten Argumente für seinen Beruf. Dazu ist er auch in seiner Lehre bei der RATP ausgebildet worden. Ab und zu steigen Kontrolleure in Zivil in seinen Bus, um nachzuschauen, ob er sich höflich verhält. Zweimal haben sie Rudy Canvot im Hochsommer angeschwärzt, weil er sein Hemd nicht vorschriftsgemäß in die Hose gesteckt hatte. Das steht jetzt in seiner Akte. Aber Unflätigkeiten hat ihm nie jemand vorgeworfen. An diesem Nachmittag knallt ein älterer Passagier wortlos einen 50-Euro-Schein auf die Blechschüssel. Er fixiert den machiniste, als wolle er ihn umlegen. Rudy Canvot reicht ihm ein Billet zurück. Und sagt ein aufforderndes: "gern geschehen", dazu. Er erntet eisiges Schweigen. Wenig später schimpft eine Frau über das "Bordell" im Bus. Ihre Fahrkarte war so zerknautscht, dass der Stempelautomat sie nicht angenommen hat. Rudy Canvot lächelt, notiert Zahlen auf das Billet und reicht es zurück. Zwei Ampeln später schneidet ein Kastenwagen dem Bus den Weg ab. Rudy Canvot steigt im letzten Moment in die Bremse. Und hupt. Der Autofahrer wirft ihm einen wütenden Blick zu und macht eine eindeutige Geste.

Solche Begegnungen sind Kleinigkeiten für Busfahrer in Paris. Täglich kommt es in Paris und der Banlieue zu härteren Aggressionen. Persönlich hat Rudy Canvot bislang nur verbale Gewalt erlebt. Ein "Arschloch" etwa, das ihm jemand entgegenschleudert. Oder ein "Hurensohn". Passagiere, die so etwas sagen, wirft er unweigerlich aus seinem Bus. Und wenn es einmal hart auf hart kommt, tritt Rudy Canvot in den Streik. Wie neulich, als ein Kollege auf seiner Buslinie von zwei Männern krankenhausreif geschlagen wurde. Der machiniste war durch eine Pfütze in der Busspur gefahren. Die beiden Männer auf dem Trottoir wurden nassgespritzt. Sie nahmen ein Taxi. Fuhren mehrere Bushaltestellen vor. Und stiegen dann in den Bus ein, um den machiniste zu verprügeln. Der Solidaritätsstreik ab dem nächsten Morgen hat Rudy Canvot drei Arbeitstage gekostet. Dreimal 80 Euro. "Wenn so etwas passiert, müssen wir Druck machen", erklärt er, "damit beim nächsten Mal Passagiere zum Schutz des Fahrers eingreifen. Oder damit sie dafür sorgen, dass die aggressiven Jungs aus ihrer Nachbarschaft sich zusammenreißen."

An diesem Novembertag hat Rudy Canvot um 5.34 Uhr mit der Arbeit auf der Linie PC2 begonnen. Um 9.41 Uhr ist die Stoßzeit vorbei - und damit der erste Teil seiner Schicht. Der machiniste geht für eine knapp vierstündige Pause in das Busdepot. Am Nachmittag, in der zweiten Stoßzeit, muss er zurück zum Bus. Sein Feierabend ist an diesem Tag kurz nach 18 Uhr. Die Pause ist unbezahlt. Der machiniste könnte theoretisch nach Hause fahren. Aber der Weg nach Hause führt einmal quer durch Paris und dann weit hinaus in die Banlieue. Denn mit dem Lohn eines machiniste kann man sich keine teure Innenstadtwohnung in Paris leisten.

Also sitzt Rudy Canvot die Zeit mit Kollegen im Bus-Depot von Aubervilliers ab. Einer erzählt, wie sympathisch das Busfahren noch in den frühen 80er-Jahren war. "Haben alle Billets", rief der machiniste früher vor der Abfahrt in seinen Fahrgastraum hinein. "Wenn man das heute in bestimmten Banlieues tut, zückt sofort jemand ein Messer", sagt ein Jüngerer schulterzuckend.

Seit Sarkozy und der Unternehmerverband Medef die Sonderregelungen bei Verkehrsbetrieben, Bahn, Gas- und Elektrizitätsgesellschaft ins Visier genommen haben, heißen die 500.000 Beschäftigten, die dort arbeiten, in manchen Medien "Privilegierte". In anderen "Faulenzer". Gleich nach der Abschaffung der Sonderregelungen will Sarkozy die Lebensarbeitszeit sämtlicher Beschäftigter im öffentlichen Dienst von jetzt 37,5 auf zunächst 40 und dann 41 Jahre verlängern. So funktioniert es schon seit 1993 in der Privatwirtschaft. Der Staatspräsident hat immer wieder im Fernsehen erklärt, dass die Beschwerlichkeit am Lenkrad eines Busses oder im Cockpit eines Zuges, die einst die Sonderregelungen gerechtfertig habe, nicht mehr gegeben sei. Dass sich außerdem die Lebenserwartung aller Franzosen verlängert habe. Und dass es "ungerecht" sei, wenn die einen weniger lang arbeiten müssten als die anderen.

Im Depot von Aubervilliers gibt es keinen einzigen machiniste, der die Abschaffung der Sonderregelungen rechtfertigt. Auch jene nicht, die wie Alexandre Moreau vor sechs Monaten für Sarkozy gestimmt haben. Er bereut seine Wahlentscheidung nicht. Aber heute wird er trotzdem in den Streik treten wie alle anderen Kollegen aus dem Depot. "Ich streike so lange", sagt er trotzig, "bis es endlich echte Verhandlungen mit den Gewerkschaften gibt."

In den vergangenen Monaten haben hunderte von älteren Kollegen die RATP verlassen. Angesicht der drohenden Abschaffung ihrer Rentenregelung sind sie vorzeitig in Rente gegangen. Jetzt suchen die Verkehrsbetriebe händeringend nach neuen machinistes. Und trotz hoher Arbeitslosigkeit gelingt es ihnen bislang nicht, die ausgeschriebenen Plätze zu besetzen. Für Leute wie Rudy Canvot liegt das Motiv auf der Hand: "Der Job ist heute beschwerlicher denn je. Jeder, der mich für einen Privilegierten hält, sollte sich eine Woche lang auf meinen Sitz setzen."

Rudy Canvot ist 27. Seine Rente liegt in weiter Ferne. Er hat das Gefühl, dass er von heute an für sich und für alle anderen streiken muss. Wenn die Sonderregelungen abgeschafft werden, will er die RATP verlassen.

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