Selbsthilfe-Organisationen: Am Tropf der Pharmaindustrie
Nicht immer sind Patienten-Selbsthilfegruppen unabhängig. Einige Organisationen sind nicht nur von den finanziellen Zuwendungen der Pharmaindustrie abhängig.
Für fast alle chronischen Erkrankungen gibt es hierzulande Selbsthilfegruppen. Rund 3 Millionen Menschen sind darin organisiert, schätzt das Robert-Koch-Institut. Auch der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen unterstreicht die Bedeutung der Selbsthilfe: Sie sei Ausdruck sozialer Emanzipation, praktischer Medizinkritik und trage zum Abbau überzogener Medikalisierung bei.
Inwieweit dieser hohe Anspruch von den rund 300 bundesweit aktiven Selbsthilfeorganisationen gelebt wird, wäre empirisch zu untersuchen. Zumal sie latent durch "Informationssteuerung und Produktmarketing" der Pharmaindustrie in Versuchung geführt werden, wie der Sachverständigenrat in seinem Gutachten für 2005 schreibt.
Die Sensibilität für Einflussnahmen von Pharmafirmen wächst. Wie Patientengruppen "selbstbewusst" damit umgehen können, müsse öffentlich diskutiert werden, meint die Berliner Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstelle (Sekis). Ihr Online-Diskussionsforum "Selbsthilfe und Pharma" soll dabei helfen. Als "Anstoß" firmiert dort ein Text von Rolf Blaga von der Psoriasis Selbsthilfe Arbeitsgemeinschaft. "Fast alle haben wir 'Selbstverpflichtungserklärungen über die Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie' abgegeben", schreibt Blaga und fragt: "Aber wer überprüft, ob sich jeder daran hält?" Inzwischen liegt dem Bundestag eine Petition vor, die fordert, alle Zuwendungen von Pharmaunternehmen an Patientenorganisationen im Internet zu veröffentlichen. Die von über 200 Bürgern unterstützte Eingabe steht auf der Homepage des Petitionsausschusses, wo man sie noch bis zum 16. Januar online mitzeichnen kann.
Branchenspezifische Beeinflussungstrategien beschreibt ein aktueller "Projektbericht", den Forscher des Bremer Zentrums für Sozialpolitik im Auftrag der Selbsthilfe-Fördergemeinschaft der Ersatzkassen geschrieben haben. Professor Gerd Glaeske und seine wissenschaftliche Mitarbeiterin Kirsten Schubert hatten Fragebögen an 25 Pharmaunternehmen geschickt. Außerdem nahmen sie 8 Selbsthilfeorganisationen und deren Publikationen unter die Lupe, die für Patienten mit Alzheimer, Neurodermitis, Osteoporose, Parkinson und Psoriasis eintreten.
Das geltende Verbot, rezeptpflichtige Arzneien bei Laien zu bewerben, wird nach Glaeskes Darstellung mitunter auf Patientenkongressen und in Mitgliederzeitschriften umgangen. Zudem versuchten Pharmafirmen, Adressen der Besucher von Infoveranstaltungen zu erhalten. Über Vereinspublikationen und Internet würden Teilnehmer für klinische Studien zur Erprobung von Medikamenten aufgerufen und rekrutiert.
Wichtig für die Industrie sind Experten, die nicht nur Pharmagelder beziehen, sondern auch in wissenschaftlichen Beiräten von Patientenorganisationen mitwirken, Studienergebnisse kommentieren, gegebenenfalls Präparate empfehlen und Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften mit verfassen. Zu beobachten sei in einigen Fällen auch, dass sich Ärzte und Wirtschaftsunternehmen mitunter an der Gründung von Selbsthilfegruppen beteiligten.
Ziel der mannigfaltigen Bemühungen sei "der direkte Zugang zum Endverbraucher" von Medikamenten. Dies sei für Unternehmen "kosteneffektiver" zu machen, als Mediziner zu einem wohlwollenden Arzneimittel-Verordnungsverhalten zu veranlassen, wofür die Branche nach Glaeskes Darstellung pro niedergelassenem Arzt jährlich 35.000 Euro aufwende.
Was Pharma- und Medizintechnikhersteller für Marketing und Sponsoring in den Selbsthilfebereich insgesamt investieren, ist unbekannt - und unüberschaubar ist, wie viele bezahlte Annoncen sie in Patientenzeitschriften schalten. Erste Zahlen für Deutschland haben zwei führende Arzneihersteller im Internet veröffentlicht. Unter ihrer Homepage-Rubrik "Ethik im Geschäft" meldete die Roche Pharma AG Ende 2006, man habe im laufenden Jahr 230.000 Euro an 18 Patientengruppen verteilt. Im Februar 2007 zog Konkurrent GlaxoSmithKline nach und listete auf seiner Website 35 Organisationen auf, die das Unternehmen 2006 mit 326.000 Euro gefördert habe. Derartige Unterstützung hält Gesundheitsökonom Glaeske grundsätzlich für legitim, sofern sie transparent und in einer Höhe erfolge, die weder Autonomie noch Unabhängigkeit von gesponserten Selbsthilfeorganisationen zu gefährden drohe. Doch an solcher Transparenz fehle es vielerorts. Klar sei nur, dass die Selbsthilfe sich "zu einem nicht unerheblichen Anteil" aus Stiftungen, Spenden und Sponsoring finanziere - 2004 sollen diese Finanzquellen fast ein Viertel des Gesamtvolumens ausgemacht machen, wobei etwa 5 Prozent der Organisationen rund die Hälfte ihres Etats aus Sponsoringmitteln bestritten hätten.
Glaeske empfiehlt, verbindliche Regeln für eine "Good Sponsoring Practice (GSP)" zu vereinbaren. Zum Beispiel sollen sich Patientenverbände verpflichten, in ihren Mitgliederzeitschriften und Internetauftritten weder Werbung noch Empfehlungen für Arzneimittel zuzulassen; dasselbe solle auch für Vorträge, Kongresse und Patientenschulungen gelten. Sofern wissenschaftliche Beiräte existierten, sollten deren Mitglieder ihre "Unabhängigkeit von der Industrie darlegen können".
Alle Selbsthilfeorganisationen, die den Vorgaben eines noch zu entwickelnden GSP-Kodexes nachweislich folgten, will Glaeske im Internet veröffentlicht sehen; eine so leicht zugängliche Referenzliste könne auch Orientierung für Menschen bieten, die auf der Suche nach einer vertrauenswürdigen Patientenlobby seien.
Betreiber der Website sollte eine "unabhängige und neutrale Monitoringstelle" sein, welche die Selbsthilfeszene kontinuierlich beobachtet, berät und auch kontrolliert. Finanziert werden solle sie durch das Bundesgesundheitsministerium und die gesetzlichen Krankenkassen. Sein Universitätsinstitut sei gern bereit, die Monitoring-Rolle zu übernehmen, sagt Glaeske.
Was seine Auftraggeber von dieser Idee halten, weiß der Bremer Professor nicht, denn noch hält sich die Selbsthilfe-Fördergemeinschaft der Ersatzkassen bedeckt. Den bereits im April 2007 abgeschlossenen, 73 Seiten starken "Projektbericht", in dem die Forscher auch Namen und Praktiken ausgewählter Organisationen und Unternehmen nennen, haben die Krankenkassen bis heute nicht ins Internet gestellt.
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