Eine Familie in Kenia: Zwischen den Fronten
Die blutigen Unruhen nach den Wahlen in Kenia rissen tiefe Gräben nicht nur in der Gesellschaft. Unser Autor erzählt von einem politischen Schwelbrand unter Geschwistern.
Zwei Jahre jünger als ich ist Mwangi (alle Namen geändert). Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann und der Wohlhabendste in der Familie, aber auch der mit der schlechtesten Schulbildung. Nach der Scheidung unserer Eltern wollte mein Vater für ihn nichts mehr bezahlen, weil er ihm vorwarf, aufseiten unserer Mutter zu stehen. Mwangi hat eine Ausbildung als Maler vom kenianischen Jugenddienst bekommen, wurde also vom Staat vor einem möglichen Abrutschen in die Kriminalität bewahrt. Heute gehört ihm ein gut gehender Malerbetrieb, seine Kinder gehen auf die teuersten Schulen Nairobis. Mwangi steht stramm hinter Kibaki und hat dessen Wahlkampagne aktiv unterstützt. Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen, aber ich bin sicher, dass es ihm gut geht, weil er am Wahltag gerade auf seinem Landhaus im Kikuyu-Kernland war.
Nach Mwangi kommt Dan. Er entwickelt Computeranwendungen für Mobiltelefone. Er hat ein Haus in einem reichen Viertel von Nairobi, mit PNU-Größen als Nachbarn, und er unterstützt die PNU. Dan ist ein sehr freundlicher Mann, bekannt für seine Fairness und sein stets korrektes Verhalten. Bei einem Familienessen vor Weihnachten haben wir uns gestritten, und ich verlor die Geduld, weil ich ihn nicht wiedererkannte. Er sagte, es wäre in Ordnung, die Wahl zu fälschen und Sicherheitskräfte einzusetzen, damit Kibaki gewinnt. Ich sprach mit ihm, nachdem Kibaki zum Sieger erklärt wurde, und er war tatsächlich beim Feiern und verstand nicht, worüber ich mich aufregte. Aus seiner Sicht sind die Kikuyu die Opfer. Er glaubt, wenn Raila Odinga die Wahl gewonnen hätte, wären die ethnischen Säuberungen gegen Kikuyu noch schlimmer geworden, als sie es jetzt sind. Viele denken wie er. Ich kann ihnen das Gegenteil nicht beweisen.
"Anonymus" lebt in Kenia, ist der älteste von sieben Geschwistern, 57 Jahre alt, ein freiberuflicher Consultant. Seine Eltern waren Kleinbauern. Bei der Wahl hat er die Opposition unterstützt, obwohl er aus der Heimatregion von Präsident Mwai Kibaki in Nyeri stammt und Kikuyu ist wie er.
Aber er glaubt, dass die Opposition, also Raila Odinga und seine Orange Democratic Movement (ODM), die Probleme des Landes besser in den Griff bekommen kann als Kibakis PNU (Party of National Unity). Ihm ist egal, dass Odinga Luo ist und kein Kikuyu.
Der vierte von uns Brüdern ist Fred, ein Journalist. Er leitet eine Journalistenschule. Sie floriert nicht, denn sie liegt in einem schlechten Stadtteil, aber bessere Adressen sind zu teuer und außerdem zu weit weg von seiner Zielgruppe, den Schulabgängern aus den Armenvierteln. Im Moment ist die Schule geschlossen. Fred hat schon für einen bekannten reichen Politiker gearbeitet, und obwohl er Kikuyu ist, lernte er damals Oppositionsführer Raila Odinga persönlich kennen, der ja ein Luo ist. Er mag ihn und hat nicht die Angst vor ihm, die viele andere Kikuyu haben. Fred unterstützt die Opposition und verurteilt den Tribalismus, der bereits vor den Wahlen so offensichtlich war. Es war schon damals gefährlich, als Kikuyu Odinga zu unterstützen. Er ist der Einzige in der Familie, mit dem ich in den letzten Monaten offen über die Lage reden konnte. Ich glaube, er ging selbst gar nicht zur Wahl.
Danach kommt Waititu, meine einzige Schwester. Wir lieben sie alle so sehr. Sie ist ein fröhlicher Mensch, und sie hat so ein ansteckendes Lachen. Wenn wir uns anrufen, lachen wir immer, bevor wir überhaupt etwas sagen. Kurz vor den Wahlen rief sie mich an, und wir lachten nicht. Waititu ist Laborantin in einem Krankenhaus in Mombasa und verheiratet mit einem kleinen Geschäftsmann. Die beiden haben drei Kinder, und sie müssen hart arbeiten, um die hohen Schulgebühren bezahlen zu können. Waititu und ihr Mann sind aktiv in der Presbyterianischen Kirche, dem wichtigsten Vehikel für Kikuyu-Herrschaft in Kenia. Die Kirche wurde im Wahlkampf fundamentalistisch und predigte, Raila Odinga sei der Antichrist und ein Teufelsanbeter. Waititu leitet den presbyterianischen Frauenverband in ihrem Viertel von Mombasa, ihr Mann ist Laienprediger. Sie glauben fest an die PNU-Botschaft. So konnte ich am Telefon nicht mehr lachen.
Jetzt haben sie in Mombasa alles verloren und leben mittellos bei Verwandten ihres Mannes. Kurz nach der Verkündung des Wahlergebnisses rief ich sie an und sagte, sie sollte sich in Sicherheit bringen. Sie brauchte zu lange, um mir zu glauben. Beinahe wäre es zu spät gewesen. Meine siebenjährige Tochter war gerade bei ihr zu Besuch - auch deshalb, weil wir uns gegenseitig zeigen wollten, dass wir einander trotz unserer großen politischen Meinungsverschiedenheiten immer noch vertrauen. Ich hatte solche Angst um sie alle.
Inzwischen hat die PNU-Propagandamaschine meine Schwester davon überzeugt, dass es noch viel schlimmer gekommen wäre, wenn Odinga an die Macht gekommen wäre, denn dann hätten die Vertreibungen von Kikuyu die Staatsmacht hinter sich gehabt. So sei es jetzt gut, dass Kibaki wenigstens bliebe, um für die Kikuyu eine Lösung auszuhandeln. Sie sieht nicht, dass Kibaki nichts getan hat, um sie zu schützen.
Fred, der sechste, ist ein junger Aufsteiger mit einer PR-Firma und Druckerei. Er hat reiche Kunden und besitzt ein Haus in Durban in Südafrika. Sein Sohn geht in Uganda zur Schule. Er könnte auswandern, wenn alles zusammenbricht. Im Wahlkampf druckte er PNU-Wahlpropaganda. Die Wahl verbrachte er mit seiner Familie in einem Strandhotel bei Mombasa. Als die Unruhen aufflammten, war er immer noch dabei, eine Geburtstagsparty für den 30. Dezember zu organisieren. Als ich ihm sagte, was los war, antwortete er gelassen: "Das wird schon nicht so schlimm." Und dennoch liebe ich jedes einzelne Mitglied meiner Familie.
Der Jüngste von uns Geschwistern ist Kamau, dessen Frau die Tochter eines hochrangigen pensionierten Presbyterianerpriesters ist. Sie haben sich in Mombasa niedergelassen, ihm gehört eine kleine Tankstelle. Er kommt wunderbar mit seinen muslimischen Nachbarn aus und wusste schon vor der Wahl genau, was los war. Seine Schwiegerfamilie war an Kibakis PNU-Wahlkampf beteiligt, seine Geschäftspartner waren aktiv in Odingas ODM-Kampagne. Die auch in den Moscheen geführt wurde, mit politischen Freitagspredigten.
Kamau fürchtete sich nicht, weil er so gut mit der lokalen Geschäftswelt auskam. Seine Tankstelle steht auch noch, und seine Angestellten retteten seinen Minibus. Aber der kleine Laden, den seine Frau hinter dem Wohnhaus betrieben hat, wurde dem Erdboden gleichgemacht, und das Haus dazu. Es waren zwei Angriffe. Der erste war eine Warnung. Die Verkäuferin wurde verjagt und lebt nun bei Verwandten in Kibakis Heimatregion. Auf der Durchreise kam sie bei uns in Nairobi vorbei. Aber sie wollte keine Hilfe von mir annehmen, denn sie hatte erfahren, dass ich die ODM gewählt hatte, ihre Peiniger. Es war sehr schmerzlich für mich, aber ich verstehe sie. Sie ist traumatisiert.
Nach dem ersten Angriff hätte Kamau seinen Besitz in Sicherheit bringen können, aber er dachte, die Nachbarn würden das Haus schützen. Beim zweiten Angriff riss die Menge das eiserne Gitter vor der Tür ein und nahm alles mit, sogar gebrauchte Schulhefte der Kinder. Kamaus Frau hat sich nun heftig mit den Kirchenoberen aus ihrer Familie gestritten, damit die aufhören, den Wahlsieg zu feiern und stattdessen Wahlfälschung als Sünde verdammen und beraten, wie Menschenleben gerettet werden können. Kamau und seine Familie wohnen jetzt ebenfalls in unserer Heimatprovinz, aus der auch Kibaki stammt. Die beiden haben nichts mehr, außer ihrem Minibus, mit dem sie andere Vertriebene in Sicherheit bringen.
Und ich? Ich wohne am Stadtrand von Nairobi, an einem Fluss gegenüber einem Dorf. Dort leben viele arme Kikuyus, die als Steineklopfer oder Angestellte der reicheren Leute auf meiner Seite des Flusses arbeiten. Ich baue schon seit zehn Jahren an meinem Haus, immer wieder ein bisschen, wenn ich dafür Geld habe. Am Tag vor den Wahlen arbeiteten viele Leute auf meiner Baustelle: der Tischler und seine beiden Helfer, Luo, ein Handwerker aus meinem Heimatdorf, Kikuyu, der Maler und sein Assistent, beides Kikuyu, und noch andere. Es waren insgesamt 13 Erwachsene und vier Kinder da.
Die Atmosphäre war entspannt, wir machten Witze darüber, wer wohl gewinnen würde: Kibaki oder Odinga. Die Meinungen waren zumeist ethnisch geteilt, aber nicht nur, und es war damals auch ziemlich egal.
Jetzt sind wieder alle auf der Baustelle, außer einem, der in den Unruhen sein Leben verloren hat, und einer Frau, die gerade Hochzeit feiert, und wir sind elf sehr nachdenkliche Erwachsene. Die Luo waren sowieso schon da. Sie hatten auf der Baustelle Zuflucht gesucht, und ich hatte die Kikuyu-Maler gebeten, auch zu kommen. Jetzt sind sie alle hier. Die Stimmung ist angespannt, aber friedlich. Alle wollen ihre beste Seite zeigen, die Kikuyu-Maler und die Luo-Tischler, die sich vorab so sehr gestritten hatten, und ich bin sicher, dass mindestens zwei von jeder Seite an den Unruhen teilgenommen haben.
Heute sind alle sehr still. Alle scheinen sich irgendwie zu schämen. Die Kikuyu-Haltung ist: "Die Luo haben angefangen, und jetzt bringen sie im Westen Kenias unsere Leute um." Die Luo-Haltung: "Die Kikuyu haben angefangen, indem sie die Wahl fälschten und unsere Leute in Nairobi töteten." Keiner sagt all das offen.
Ich erklärte ihnen heute früh, dass wir bei uns selbst anfangen müssen, wenn wir Frieden in Kenia wollen. Sie sagten dazu nichts, aber es scheint zu funktionieren. Ich sehe gerade, wie ein Kikuyu und ein Luo zusammen ein schweres Brett tragen, und ich werde ganz sentimental.
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