Kolumne Einen Versuch legen: Trillerpfeifen und Traumergebnisse

Kein Entkommen: Wenn Kabarettist Helmut Schleich die Fröttmaninger Arena sieht, muss er stets an eine Plastikkröte und Bundesjugendspiele denken.

Als Bewohner des Münchner Nordens komme ich am Sport nicht vorbei. Immer wenn ich auf der Autobahn in Richtung Nürnberg unterwegs bin, drängt er sich in Form einer gigantischen, von innen grell beleuchteten Plastikkröte mit Namen Allianz-Arena unübersehbar in mein Blickfeld.

Wenn sie rot leuchtet, weiß man, dass jetzt irgendwo in diesem fetten Leib in der VIP-Lounge des FC Bayern selbsternannte Promis überteuerten italienischen Schaumwein schlürfen, schimmert sie blau, strampeln sich gerade die Underdogs des TSV 1860 ab, um irgendeine traurige Zweitligaposition zu verteidigen, und wenn sie grün leuchtet - aber nein, grün leuchtet diese Kröte nicht

Wenn ich an Sport denke, denke ich sofort an Schulsport, an nach kaltem Schweiß riechende Umkleideräume, fußpilzverseuchte Massenduschen und Lehrer, die sich in Jekyll-Hyde-Manier binnen Sekunden vom lässig-liberalen Sozialkundekumpel in einen paramilitärisch schnarrenden Turnvater Jahn mit Trillerpfeife im Mund verwandeln konnten.

Ich denke an die holzgetäfelte Turnhalle mit den Bodenmatten aus eiskaltem, raugenopptem Plastik, auf dem man sich schon beim Hinsehen die Knie aufschürfte, an braun belederte "Böcke" und vor allen Dingen an das mit Talkumpuder bestäubte Reck, bei dessen Anblick wohl jeder von uns zum ersten Mal Angst um seinen noch nicht erprobten Fortpflanzungsapparat bekam.

Noch heute frage ich mich manchmal, was um alles in der Welt die damals mit diesem Park an Foltergeräten bezwecken wollten. Wenn sie uns wenigstens Fragen gestellt hätten, bevor sie uns wieder auf eine dieser grausigen Apparaturen hetzten Gott ist mein Zeuge: Ich hätte ihnen alles gesagt.

Etwas mehr erschließt sich mir im Nachhinein der Sinn jener traurigen, alljährlich abgehaltenen Veranstaltung, der das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend den nicht ganz unzweideutigen Namen "Bundesjugendspiele" gegeben hat. Nicht, dass mich öde "Wettkämpfe" wie Laufen, Weitspringen und Ballwerfen in irgendeiner Weise interessiert hätten - bis heute muss mir noch jemand beweisen, was gut daran sein soll, wenn jemand in brütender Sommerhitze fünfzig Meter schneller zurücklegen kann als ich.

Was mich an dieser Miniolympiade (das Motto "dabei sein ist alles" hatte spätestens mit 16, als wir unsere eigenen Entschuldigungen schreiben durften, für mich ausgedient) wirklich faszinierte, waren die Leistungen auf nichtsportlichen Gebieten, zu denen sie mich und viele meiner Mitschüler anspornten. So eigneten wir uns schließlich jene begehrten "Softskills" an, die sich Jahrzehnte später als überaus nützlich erweisen sollten.

Da gab es diejenigen, die sich schon früh mit Weißbier, Jägermeister oder irgendwelchen in Tee aufgelösten Substanzen dopten, mit deren Nachweis auch heute noch ein gut ausgestattetes Prüflabor seine liebe Mühe hätte.

Da gab es jene unerschrockene Truppe, die nach gründlicher Vorbereitung ins Dienstzimmer des Sportlehrers eindrang und dort einen ganzen Stapel Urkunden stibitzte und sich ihre Lorbeerkränze selbst auf die Häupter setzte. Das führte in den nachfolgenden Jahren zu einem dramatischen Werteverfall der "Ehrenurkunde", die fortan jeder noch so blasse, schwächliche Stubenhocker sein eigen nennen konnte.

Da gab es den begabten Stimmenimitator, der über ein aus dem Turnhallenfenster gehaltenes Megafon in täuschend echt nachgemachtem Idiom und Tonfall des Direktors wegen eines Bombenalarms den Sportplatz räumen ließ, und da gab es noch jenen einsamen Helden meiner Jugend, der seine ganze Schulzeit über seinen ganzen Ehrgeiz daransetzte, bei den Bundesjugendspielen anstatt "Sieger"- oder "Ehrenurkunde" sein persönliches Traumergebnis zu erreichen: null Punkte. Selbstredend, dass kampfrichternde Sportlehrer nur darauf lauerten, diesen Traum durch Vergabe EINES Punktes platzen zu lassen.

Noch heute frage ich mich, was aus diesem verhinderten Systemunterwanderer wohl geworden ist

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