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Zum Streik im Öffentlichen DienstSolidarität vs. Ressentiment

Sollen wir solidarisch mit - oder genervt sein von den Streikenden? Eine Herzensfrage. Die Generation-Milchkaffee kann locker bleiben, anderswo wird mehr gestreikt.

Ist das eigentlich okay, was diese Leute da machen? Und sollten wir nicht irgendwie mitmachen? Bild: ap

Die Sache mit den Kitas ist heikel. Geschlossene Kindergärten! Und die berufstätigen Mütter dürfen mal wieder sehen, wo sie bleiben. Im Nahverkehr und in den Kitas sollen Warnstreiks vorher angekündigt werden, beruhigt die Gewerkschaft Ver.di. Immerhin. Die neuen Streiks im öffentlichen Dienst stürzen manche BürgerInnen in einen Kampf mit sich selbst: genervt sein oder solidarisch? Tja. Das entwickelt sich inzwischen zur delikaten Herzensfrage.

Solange Arbeitskämpfe vor allem bei Automobilfirmen stattfinden oder die Stahlindustrie lahmlegen, ist die Sache einfach für die BürgerInnen, jedenfalls für jene, die sich "eher links denkend" verorten, wie es Politstrategen so ausdrücken. Streik? Find ich gut. Schließlich geht es um Solidarität mit abhängig Beschäftigten, die ein wenig an den boomenden Unternehmensgewinnen teilhaben wollen. Auch kann es ja nicht schaden, wenn mal ein paar hundert Stinkekisten weniger produziert werden.

Doch das Solidaritätsmuster gerät ins Wanken, wenn die Massengewerkschaft Ver.di zum Ausstand in Krankenhäusern, Stadtverwaltungen, Kindergärten und Müllabfuhren ruft. Die Arbeitgeber möchten eine um anderthalb Stunden erhöhte Wochenarbeitszeit von 40 Stunden für die fast zwei Millionen Beschäftigten des Bundes und der Kommunen samt angeschlossener Betriebe durchsetzen. Sie bieten eine Lohnsteigerung an, die kaum die Inflationsrate ausgleicht. Die Empörung über dieses Angebot kann jeder verstehen, zumal Krankenschwestern, ErzieherInnen und Müllwerker nicht zu den Privilegierten gehören.

Zwei Probleme trüben jedoch das Solidaritätsempfinden: Erstens werden alle Lohnerhöhungen aus den öffentlichen Kassen und damit vom Steuerzahler finanziert. Und zweitens treffen Arbeitskämpfe eben genau die steuerzahlende Mittelschicht, die im Zweifelsfall unter ausbleibenden Bussen, abwesendem Krankenpflegepersonal, überfälligen Müllhaufen und geschlossenen Kitas leidet.

Arbeitskämpfe im öffentlichen Dienst entfalten ihre Wirkung, weil sogenannte Normalbürger in ihrem Lebensalltag davon betroffen ist. Die Gewerkschaft Ver.di weiß, dass dies ein heikles Spiel ist auf der Klaviatur der öffentlichen Meinung. Wendet sich die Stimmung in der Politik, in den Medienkommentaren gegen die Arbeitgeber, oder steht am Ende nur Ver.di als gierige, sture Gewerkschaft da, die nicht verstehen will, dass es kein Geld gibt für eine hochprozentige Lohnerhöhung ohne Arbeitszeitverlängerung?

Streiks sind immer eine Gelegenheit, alte Ressentiments wieder auszupacken. Anstatt sich aber am Bistrotisch beim Latte macchiato über Gewerkschaftsrituale aufzuregen, verhilft ein Blick über die Grenzen zu etwas mehr Gelassenheit. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern herrscht bei uns nämlich noch Ruhe im Karton. In den Jahren zwischen 1996 und 2005 gab es in Deutschland nur 2,4 Streiktage auf je 1.000 Beschäftigte, so die Liste vom gewerkschaftsnahen WSI-Institut in Düsseldorf. Ganz oben beim Streikranking steht Spanien mit durchschnittlich 150 Ausfalltagen je 1.000 Beschäftigten, gefolgt von Italien mit 87 Tagen. Nicht nur in Frankreich, auch in Österreich, Großbritannien und Schweden wurde häufiger die Arbeit niedergelegt als bei uns. Zumal es beispielsweise in Frankreich und Italien auch noch das Mittel des "Generalstreiks" gibt, durch den gleich branchenübergreifend gegen politisch missliebige Vorhaben protestiert wird. Generalstreiks sind bei uns verboten.

Die Zahl der Streiktage hat allerdings in Deutschland in den vergangenen Jahren wieder zugenommen. Die Arbeitskämpfe stehen in Konkurrenz untereinander um mediale Aufmerksamkeit. So wie die Gewerkschaften selbst. Wenn die Lokführer mit ihrem Berufsverband GdL erkleckliche Gehaltssteigerungen durchsetzen können, darf Ver.di im Tarifstreit erst recht nicht hinten anstehen. Für die Gewerkschaften ist dabei nicht so wichtig, dass die Menschen tatsächlich unter dem Arbeitskampf leiden, sondern dass die Medien groß darüber berichten und so öffentlicher Druck entsteht.

Wer weltoffen denkt, wird Arbeitsniederlegungen also zunehmend gelassener ertragen. Zwei nicht abgeholte Müllsäcke sind kein Weltuntergang, in den Krankenhäusern wird die Grundversorgung der Patienten immer gewährleistet, und statt der Busse gibt es Fahrräder. Arbeitskämpfe bieten den BürgerInnen die Chance, auch mal mit dem Nichtfunktionieren klarzukommen. Sie sind Urlaub in einem fremden Land. Das Schöne: Man hat ein Thema und ist nicht allein. Nur die Kitas, also Ver.di! Da habt Erbarmen!

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