Leiterin der Amputierten-Initiative Deutschland: Die Schrittmacherin

Dagmar Gail leitet die Amputierten-Initiative Deutschland und hat selbst ein Bein unnötig verloren. Mit ihrem Verein kämpft sie um jeden Zentimeter Mensch.

Dass es nicht soweit kommt, dafür arbeitet Dagmar Gail. Bild: dpa

BERLIN taz Die Frau aus Suhl möchte sterben. Dagmar Gail kennt diesen Wunsch. Sie kann die Frau verstehen. Am Telefon sagt sie zu ihr: "Umbringen können Sie sich immer noch. Jetzt gehen wir erst einmal den nächsten Schritt. Das wird nicht einfach. Das wird wehtun. Danach sehen wir weiter." Sie schiebt die weißen, kurzen Haare flach aus der Stirn, bis sie ihr zu Berge stehen.

In Deutschland werden jährlich 50.000 Beine amputiert. Häufigste Ursache ist die periphere arterielle Verschlusskrankheit, 87 Prozent aller durchgeführten Amputationen sind die Folge dieser Durchblutungsstörung. Weitere 8 Prozent gehen auf Unfälle, Infektionen oder Tumore zurück.

Die Amputierten-Initiative e. V. hat sich zum Ziel gesetzt, unnötige Amputationen zu verhindern. Der Verein, dessen Vorsitzende Dagmar Gail ist, setzt auf Aufklärung über Risikofaktoren und Präventionsmaßnahmen. Er berät außerdem deutschlandweit Arm- und Beinamputierte, vermittelt an Fachkliniken und -ärzte, an Psychologen und Seelsorger, Orthopädietechniker, Gehschulen, Physiotherapeuten und weitere Spezialisten.

An den Wänden des Büros im beschaulichen Berliner Südwesten hängen Fotos von Kongressen und Empfängen. Auch Briefe, besondere Briefe, und Zeichnungen. Der antike Schreibtisch ist überladen mit Gesetzbüchern, Lexika, Briefen und Fachzeitschriften. Auf dem Teppich stapeln sich Aktenordner. Man sieht medizinische Plakate mit grafischen Darstellungen des menschlichen Gefäßsystems. Die Flüsse und Deltas der Adern. Rotes Blut. Blaues Blut. Blut, das fließt. Blut, das stockt.

Auf dem Besprechungstisch, zwischen Orangen und Schokolade, liegt das kleine Modell einer Arterie. Im Bauchraum teilt sie sich und versorgt dann die unteren Extremitäten. Eine kleine rote Hose zum Aufklappen ist das Modell, drinnen wächst Plaque an den Wänden, dick und gelblich wie Zahnbelag. Periphere arterielle Verschlusskrankheit heißt diese Erkrankung, sie kostet jährlich 50.000 Deutsche ein Bein.

Das will niemand hören. Und das ist das Schlimmste für Dagmar Gail. Lieber würden die Leute sterben. Während sie telefoniert, bringt eine Frau mit kurzen dunklen Haaren und weißen Perlenohrringen Kaffee herein. Nadine Borchert ist noch keine dreißig Jahre alt, sie hat Sozialarbeit studiert und sagt: "Wenn ich Freunden erzähle, dass ich für die Amputierten-Initiative arbeite, dann sehen sie mich meist erschreckt an. Ich habe sogar den Eindruck, dass sie ein Stück von mir abrücken." Dagmar Gail beendet ihr Telefonat - und wählt sofort die nächste Nummer.

"Wenn Sie die Prothesenversorgung ablehnen", erklärt sie dem Arzt am anderen Ende, "wird die Patientin gerichtlich dagegen vorgehen. Ich werde Ihnen Urteile faxen, die Amputierten in der Vergangenheit das Recht auf eine wasserfeste Prothese zugestanden haben. Ich weise Sie darauf hin, dass Richterrecht nicht durch die ökonomischen Interessen der Krankenkassen verworfen wird."

Vor siebzehn Jahren hat Dagmar Gail die Amputierten-Initiative e. V. in Berlin gegründet. Von Beginn an leitet sie den Verein ehrenamtlich, seinen Sitz hat er in einem modernen Haus zwischen Villen am Schlachtensee. Es ist der einzige Verein in Deutschland, der sich um die Bedürfnisse Amputierter kümmert und zugleich versucht, durch Aufklärung Amputationen zu verhindern.

Früher, als sie noch auf zwei gesunden Beinen im Leben stand, leitete Dagmar Gail eine Künstler- und Konzertagentur. Leute wie der Schauspieler Karl-Heinz Böhm waren bei ihr unter Vertrag. Doch als sie ihre zweite Karriere als Juristin aufbauen wollte, sie war Mitte vierzig, begannen die Schmerzen im Bein. Wahnsinnige Schmerzen. Heute weiß sie, dass die Amputation hätte verhindert, zumindest aber um einige Jahre verzögert werden können. Heute weiß sie alles über Untersuchungen wie ABI, den Knöchel-Arm-Index oder CW-Dopplersonografien und präventive Maßnahmen wie Infusionen und Bypässe. Damals musste sie die Fehldiagnose auf Gelenkkapselentzündung hinnehmen und die falschen Medikamente schlucken, anschließend mehrere Bypassoperationen über sich ergehen lassen, bis der Unterschenkel schließlich doch amputiert wurde.

Heute spricht Dagmar Gail über dringend notwendige Aufklärung, über Ärzte, die einfache Gefäßuntersuchungen anstellen könnten, es aber nicht tun, über Spezialisten und Gefäßkliniken, mit denen der Verein zusammenarbeitet. Sie spricht ohne Punkt und Komma, immer wieder unterbrochen vom Telefon. Reden. Auflegen. Weiter. Als wäre das ihre letzte Gelegenheit, das Wissen, das rings um ihren Schreibtisch gestapelt liegt, nach draußen zu geben. Doch für die Jogger und Nordic Walker vor dem Fenster dürfte das Wort Amputation wie ein düsterer Kanonenschlag von längst überwucherten Schlachtfeldern klingen. Wie jeden Morgen sporteln sie an dem Haus vorbei zum Grunewald. Allenfalls haben sie vom Raucherbein gehört. Ein Wort, das bei Dagmar Gail augenblicklich den nächsten Redeflash auslöst. Eine Schuldzuweisung sei diese Bezeichnung, zumal nicht allein das Rauchen die Ursache sei, sondern eine Vielzahl weiterer Faktoren.

Schließlich schweigt sie. Sie steht auf und durchquert den Raum. Sie muss sich konzentrieren. Jeder Schritt schmerzt.

Noch immer steht sie mit beiden Beinen im Leben, nur dass es jetzt langsamer vorwärtsgeht, was normalerweise kein Nachteil sein müsste. Starrer und schmerzhafter als ihr Bein aus Holz und Draht sind die ökonomischen Zwänge der Gesellschaft, die mehr und mehr von Eng- und Kleindenkern vollstreckt werden. Wieso sie sich für einen Mann engagiere, der das Krankenhaus jeden Tag 5.000 Euro koste und der außerdem sein Leben lang geraucht habe, hat sie kürzlich ein Arzt aus Dresden angeherrscht. Sie hat ihm Bescheid gegeben.

"Das Ziel unserer Arbeit ist, Beine und Arme zu retten", sagt sie und nimmt wieder Platz. "Die meisten Amputationen könnten nämlich verhindert werden, wenn man rechtzeitig untersuchen und präventive Maßnahmen einleiten würde." Betroffenen will der Verein helfen, auf die Ersatzbeine zu kommen, Schritt für Schritt ein verändertes Leben zu erlernen, den neuen Sinn zu begreifen. Die Amputierten-Initiative vermittelt an Geh-Schulen, Psychologen, Physiotherapeuten, außerdem an Gefäßkliniken, die sich um den Erhalt des gesunden Beines bemühen.

"Wissen Sie, was das beste Erlebnis für den zwölfjährigen rumänischen Jungen war, der bei einem Unfall beide Beine verloren und jahrelang nur im Rollstuhl gesessen hat?", fragt Dagmar Gail. "Als er mit den Prothesen laufen konnte. Dieser Moment, als er endlich ohne Begleitperson zur Toilette gehen konnte, hat ihm ein neues Selbstbewusstsein gegeben."

Mehr als tausend Anfragen gehen pro Jahr bei ihr ein. Dagmar Gail weiß, welche Hilfsmittel es gibt, sie steht den Betroffenen zur Seite, wenn sie um ihre Rechte kämpfen müssen. Sie akzeptiert nicht, dass die Mitglieder gesetzlicher Krankenkassen zunehmend von den Errungenschaften des medizinischen Fortschritts ausgeschlossen werden. Dafür legt sie sich mit Krankenkassen und Oberärzten an.

Zum Beispiel für jene Sechsundziebzigjährige, die morgens sieben Uhr von einer Gutachterin aus dem Bett geklingelt wird. Unangemeldet. Sie wolle sich ein Bild machen, wie die Patientin mit ihrer Morgentoilette zurechtkäme.

"Haben Sie keine Fantasie?", schimpft Dagmar Gail in den altmodischen, weißen Hörer. Ihre Augen treten noch ein Stück weiter aus den Höhlen. "Können Sie sich nicht vorstellen, wie eine ältere Dame mit einem Bein morgens aufsteht und zur Toilette und ins Bad geht?" Mit Spardruck von oben redet sich die Sachbearbeiterin der Krankenkasse am anderen Ende heraus. Man müsse schließlich Maßnahmen zur Prüfung der Fälle abrechnen. "Wir fühlen uns mehr und mehr in eine Ecke gedrängt", poltert Dagmar Gail.

Kürzlich hat sie den Entwurf des neuen Hilfsmittelverzeichnisses von den Spitzenverbänden der Krankenkassen bekommen. Darin finden sich Sätze wie dieser: "Das Wirtschaftlichkeitsgebot schließt eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkasse für solche Produkte aus, deren Gebrauchsvorteile nicht die Funktionalität, sondern in erster Linie die Bequemlichkeit und den Komfort betreffen." Zusammengebrochen sei sie da, sagt Gail. Man mag der resoluten Fünfundsechzigjährigen kaum glauben, dass sie, deren Ehrenamt darin besteht, permanent zu nerven, zusammenbrechen könnte. Seis drum, gleich nach der Lektüre hat sie ihre Wut gebündelt und sämtliche Einwände in einem Brief formuliert. Wer legt fest, wo Funktionalität aufhört und Bequemlichkeit anfängt? Wer darf sich anmaßen, über die Lebensqualität eines anderen zu entscheiden? "Respektlosigkeit gegenüber dem demokratischen System der Bundesrepublik Deutschland" wirft Dagmar Gail den Spitzenverbänden vor. Regelmäßig referiert sie zu diesem Themenkomplex. Auch Nadine Borchert, die Sozialarbeiterin, hat im letzten Jahr ihr erstes Referat gehalten zur psychosozialen Bewältigung nach Amputationen auf dem Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie.

Langsam trägt die Arbeit Früchte. Richard von Weizsäcker schickt regelmäßig aufmunternde Worte, der Verein erhält Briefe auch wie jenen von Professor Diehm aus dem Klinikum Karlsbad- Langensteinbach: "Im Übrigen sehe ich überall die Spuren Ihrer Arbeit. Ich kann Sie dafür nur beglückwünschen. Sie bewerkstelligen politisch mehr als viele große andere Organisationen." Schöne Worte, die Vereinskasse füllen sie nicht.

Draußen joggen die Gesunden vorbei. Der Computer an ihrem Knöchel misst Puls, Herzfrequenz und Energieverbrauch. Drinnen fühlt Dagmar Gail sich immer öfter in letzter Zeit am Ende ihrer Kraft. Sie zweifelt, ob ihre kleine Widerstandszelle ausreicht, immer und immer wieder gegen die Ausgrenzung derer anzukämpfen, die nicht mehr effizient funktionieren. Noch steht sie für sie ein.

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