Kolumne Klatsch: Meine neue Zeitrechnung heißt BB

Ein Schweinebäckchen in der Pfanne umzudrehen dauert zwei Sekunden. Aber wie lange dauern 800?

Ich bin kein Freund von Fortsetzungsromanen und Serien. Verpasst man eine Folge, ist man draußen. Insofern würde ich liebend gerne über etwas anderes schreiben als über das in meiner Kolumne vor 14 Tagen bereits angekündigte Essen mit dem amerikanischen Autor Bill Buford. Über Badeschaum oder Zehennägel. Egal.

Nur habe ich in den zurückliegenden zwei Wochen überhaupt nichts anderes erlebt als Essen. Ich habe nur über Essen geredet, Essen eingekauft und Essen gekocht. Ich kann also über nichts anderes schreiben als über das, was ich schon in der Kolumne am 15. Februar geschrieben habe: Darüber, dass heute Abend, genauer gesagt, in sechs Stunden und vierundzwanzig Minuten, hier 125 Menschen erscheinen werden, mit Hunger und einer gewissen Erwartung.

Selbst Frau und Kind habe ich in den vergangenen Tagen nur noch schemenhaft in der gemeinsamen Wohnung wahrgenommen, eher als Schatten, die mit entsetzten Gesichtern aus dem Weg gesprungen sind, wenn ich wieder durchsichtige Plastiksäcke mit vierzig Kilogramm Knochen oder eine Kiste mit zwanzig Lammmägen in die Küche schleppte. Gestern, als sich vom im Treppenhaus aufgestellten Gaskocher der Geruch gekochter Lammmägen wie das Parfüm eines Schafstalls bis in jede Ritze unserer Wohnung ausbreitete, hatte ich kurz ein schlechtes Gewissen. Aber es geht um Höheres als um eine endliche Liebesbeziehung. Es geht um die Erkennung von Grenzen in Raum und Zeit.

Es war die Zeit BB, "before Buford". Während ich diese Zeilen schreibe, schaue ich in eine leere alte Fabrikhalle, in der vor einhundert Jahren auf mechanischen Webstühlen Stoffe für Bettwäsche und Vorhänge hergestellt wurden. Vor zwei Jahrzehnten hat der Insolvenzverwalter die letzten Maschinen abgeholt, und wahrscheinlich werden jetzt in China oder Vietnam darauf Stoffe für T-Shirts gewoben. Im Moment stehen in der Fabrikhalle nur zwei lange Tafeln mit Stühlen, noch ohne Gläser und Geschirr. Aber es sind ja auch noch ein paar Stunden bis "B".

Etwas dreißig Meter von mir entfernt steht "Herr Thömmes" an einer Kippbratpfanne und brät gerade 800 Schweinebäckchen in Schweineschmalz an. "Herr Thömmes" kam extra aus Berlin angereist, um zu helfen, nachdem er meine Lage erkannte. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der es vom Kantinenchef bis zum Chefredakteur einer Zeitung brachte. Von ihm habe ich den letzten beiden Tagen das "Kochen nach Zahlen" gelernt. Malen nach zahlen kannte ich schon, aber Kochen nach Zahlen? Wann immer wir den Ablauf des Vier-Gänge-Menüs besprachen, zückte "Herr Thömmes" einen kleinen Notizblock und fing zu rechnen an. "Angenommen," sagte er, "wir brauchen zwei Sekunden, um eine Schweinebacke in der Pfanne zu wenden, wie lange brauchen wir dann für 800 Schweinebacken?" Normalerweise erübrigen sich solche Fragen in einem Dreipersonenhaushalt. Aber in einem 125-Personen-Haushalt ist eine solche Frage berechtig. Gute Kopfrechner haben es schon ausgerechnet. Man benötigt 1.600 Sekunden, und das sind 25 Minuten. Nur um umzudrehen.

Dreiundzwanzig Kilo Zwiebeln schneiden, wie viele Minuten sind das? Einen Teller mit fünf Schweinebäckchen belegen? Wir rechneten und rechneten und erschraken jedes Mal aufs Neue. Zehnmal 125 Sekunden, dann die Majoran-Serviettenknödel schneiden und arrangieren und an die Tische tragen - es geht in die Stunden.

Es gibt, fange ich an zu denken, nicht ohne Grund Spezialisten für alles und jedes. An großen Aufgaben scheitern ist zwar ehrenwert, aber es tut weh, wenn man das Ziel so kurz vor Augen hat. In wenigen Stunden wird er kommen. Man kann das Rad nicht zurückdrehen. Ab morgen beginnt eine neue Zeitrechnung: AB, "after Buford".

Fragen zur Wendezeit? kolumne@taz.de Montag: Peter Unfried CHARTS

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