Istanbul – Global City

Im Jahr 2010 will sich die türkische Metropole als europäische Kulturhauptstadt präsentieren. Wirtschaftlich legt die Stadt schon jetzt ein flottes Tempo vor. Im globalen Kampf um Aufmerksamkeit und finanzkräftige Investoren verändert sich die Megacity derzeit rasend schnell. Das soziale Gefüge gerät unter Druck, funktioniert aber ganz gut: Istanbul war immer auch eine hervorragend gesetzlose Integrationsmaschine

Inzwischen zählen Mieteinnahmen in Istanbul zu den wichtigen Renditequellen für internationale Investoren

VON WERNER GIRGERT
(TEXT) UND LINDA HERZOG (FOTOS)

Megacity, Boomtown, hippe Stadt am Bosporus. Kein Attribut scheint schillernd genug, wenn in den Hochglanzmagazinen für die vagabundierende Spaßgesellschaft von der heimlichen Hauptstadt der Türkei die Rede ist. Seit den 1980er Jahren hat die Metropole an der Schnittstelle zwischen Ost und West allen Krisen zum Trotz als führendes Handels-, Finanz- und Dienstleistungszentrum den Abstand zum Rest des Landes weiter vergrößert. Rund ein Drittel des türkischen Bruttoinlandsprodukts wird heute in Istanbul erwirtschaftet. Längst hat die Stadt Konkurrenten wie Beirut den Rang als führender Dienstleistungsstandort des Nahen Ostens abgelaufen. Und wenn es nach dem Willen der städtischen Entscheidungsträger geht, dann gebührt Istanbul über kurz oder lang ein vorderer Platz unter den Global Citys, den Steuerungszentren der Weltwirtschaft wie New York, Tokio oder London.

Wie in anderen Metropolen verändert der Kampf um globale Aufmerksamkeit und finanzkräftige Investoren nicht nur die Stadtgestalt. Auch das soziale Gefüge der Megacity mit geschätzten 15 Millionen Einwohnern gerät mächtig unter Druck. Vom global agierenden Immobilienkapital kräftig angeheizt und von der Politik bewusst forciert, ist die Transformation der historisch gewachsenen Stadtstruktur Istanbuls in vollem Gange. Der Umbau folgt dem Muster europäischer Städte mit den typischen Tendenzen zunehmender sozialer Polarisierung und räumlicher Segregation. Glitzernde Fassaden in den Hochhausvierteln Levent und Maslak künden vom Imponiergehabe der Finanz- und Dienstleistungsbranche. Eine ständig wachsende Zahl von Shopping-Malls an den Knotenpunkten der Schnellstraßen verleiht den Konsumgepflogenheiten der mobilen Käuferschichten den nötigen Erlebnis-Charakter. An den Stadträndern fallen die noch intakten Waldgebiete geschlossenen Siedlungen für eine zahlungskräftige Minderheit zum Opfer – gated communities, wie sie in den USA schon seit den 1980er Jahren zum Erscheinungsbild der Städte gehören, aber auch in Südamerika oder Europa zunehmend Nachahmer finden.

Erst im Zuge der neoliberalen Neujustierung der türkischen Politik seit den 1980er Jahren und der damit einhergehenden Internationalisierung des Immobilienmarktes hat auch das privatwirtschaftliche Kapital in der Türkei die Bau- und Immobilienbranche als gewinnträchtiges Investitionsfeld entdeckt. Inzwischen zählen Mieteinnahmen in Istanbul zu den wichtigen Renditequellen für Investoren. Büroflächen in den Toplagen bringen Monatsmieten von 30 US-Dollar für den Quadratmeter. Die Renditen für Büroimmobilien liegen bei 7,5 bis 8 Prozent. Mit Istanbuls neuer Rolle als Zentrale des Handels, der Banken und Dienstleistungen schießen die Grundstückspreise in Schwindel erregende Höhen. Im März 2007 blätterte die in der Textil- und Unterhaltungselektronikbranche tätige Zorlu-Gruppe 800 Millionen US-Dollar für das zehn Hektar große Areal der ehemaligen städtischen Autobahnmeisterei im Geschäftsviertel Levent hin. Stolze 8.000 US-Dollar pro Quadratmeter. Doch damit nicht genug. Nahezu den doppelten Preis für den Quadratmeter ließ sich die Sama Dubai Immobiliengruppe das Gelände des ehemaligen Busdepots neben den Hochhäusern der Is Bankasi kosten. Dort sollen schon bald die Zwillingstürme der Dubai Towers Istanbul 300 Meter hoch in den Himmel wachsen.

Erschwinglicher innerstädtischer Wohnraum muss, sofern er nicht in Büro- und Geschäftsflächen umgewandelt wird, dem Bau von Luxuswohnungen für die neuen, gut verdienenden Angestelltenschichten weichen. Gleichzeitig erfahren abgewirtschaftete Wohnungen durch Sanierung eine enorme Aufwertung. Die Folgen sind aus europäischen Städten hinlänglich bekannt: Ehemals preiswerter und für niedrige Einkommen erschwinglicher Wohnraum im Zentrum wird für angestammte ärmere Bewohner unbezahlbar. Eine Dreizimmerwohnung am Taksim-Platz für 750 Euro Kaltmiete bleibt selbst für eine Grundschullehrerin, die mit einem Monatsgehalt von rund 600 Euro auskommen muss, unerschwinglich.

Stadtteile wie Cihangir gleichen immer mehr den sanierten Gründerzeitvierteln deutscher Städte, in denen die etablierte akademische Mittelschicht ihre Wohnträume hinter liebevoll hergerichteten Stuckfassaden auslebt. Selbst die Straßen sind, für Istanbul unüblich, mit Laternen und Blumenkübeln dekoriert.

Auch in den Stadtteilen Kuzguncuk und Ortaköy sind die Ergebnisse dieser Gentrifizierungsprozesse zu besichtigen. Bekanntestes Beispiel ist jedoch das Viertel rund um die zur Fußgängerzone aufgepeppte Istiklal-Caddesi im Stadtteil Beyoglu. Mit seinen Clubs und Kneipen wird es in Reiseführern gern als „trendige“ Adresse für vergnügungssüchtige Nachtschwärmer aus ganz Europa beworben. Dass die ursprünglich ansässige Bevölkerung aus den begehrten Innenstadtvierteln immer häufiger an den Stadtrand verdrängt wird, während sich im Zentrum die sozial homogenen Enklaven der neuen Mittelschicht ausbreiten, bleibt zumeist unerwähnt.

Die negativen Folgen der Orientierung am Modernisierungsmodell der europäischen Stadt sind auch an anderen Stellen im Istanbuler Stadtbild unübersehbar: Statt auf Erhalt und sozialverträgliche Sanierung historisch gewachsener Quartiere setzen Politik und Verwaltung auf Kahlschlag. Jüngstes Beispiel ist das traditionsreiche Romaviertel Sulukule im Altstadtbezirk Fatih. Unter dem Deckmantel der Sanierung soll die vorhandene Bausubstanz gegen den Willen der knapp 600 dort lebenden Familien abgerissen und durch Nachbauten osmanischer Architektur ersetzt werden. Kritiker sehen in den Plänen von Bezirksbürgermeister Mustafa Demir den Versuch, die Altstadt bis 2010 von den Roma zu säubern. Dann nämlich will sich Istanbul neben Essen und der ungarischen Stadt Pécs als europäische Kulturhauptstadt präsentieren. Für den nachlässigen Umgang seiner Landsleute mit der gebauten Geschichte macht der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk in seinem Istanbul-Buch die bis heute unverarbeiteten Kränkungen des türkischen Nationalgefühls verantwortlich: „Das probateste Mittel, sich nicht als tragische Hinterlassenschaft eines untergegangenen Reiches zu fühlen, besteht nämlich darin, sich um historische Bauten erst gar nicht zu kümmern und auch ihren Namen oder ihren architektonischen Besonderheiten keinerlei Beachtung zu schenken […] Etwas Altes abzureißen und an der gleichen Stelle ein ‚modernes, westliches‘ Gebäude hochzuziehen, stellt eben auch eine Art des Vergessens dar.“

Vergessen sind auch die Bausünden der vergangenen Jahrzehnte, in denen breite Straßenschneisen durch den historischen Altstadtkern geschlagen wurden. Noch immer fallen heute wertvolle Gebäude dem Bau breiter Schnellstraßen zum Opfer. Ein Tribut an die überbordende Autoflut, während das unzureichend ausgebaute öffentliche Verkehrssystem unter dem täglichen Andrang der Massen zu kollabieren droht.

Die Zahlen der Istanbuler Stadtverwaltung sind ernüchternd: neunzig Prozent des gesamten städtischen Verkehrs spielt sich auf den überfüllten Straßen ab, nur knapp sieben Prozent werden mit Straßen- und Untergrundbahn bewältigt. Mit großem technischen Aufwand wird zurzeit ein anderthalb Kilometer langer Metrotunnel in den Meeresgrund unter dem Bosporus gegraben, der den asiatischen Teil der Stadt künftig besser an den europäischen Teil anbinden soll. Die Verkehrsprobleme der Megacity kann jedoch auch dieses Großprojekt nicht lösen.

Auf der Überholspur Richtung Westen übersehen Politik und Verwaltung an den Ufern des Bosporus, dass die vorrangig an den Imperativen des Verkehrs und der ökonomischen Nutzung orientierten Leitbilder der Stadtplanung schon seit den 1970er Jahren mächtig ins Wanken geraten sind. Zweifel am unbegrenzten Wachstum der Wirtschaft setzten der technokratischen Planungsbürokratie ebenso Grenzen wie eine für das historische Erbe ihrer Städte zunehmend sensibilisierte Öffentlichkeit. Immer weniger Menschen sehen das Ideal der Stadt in der funktionalen Trennung von Arbeit, Wohnen und Freizeit.

Eine dem Autoverkehr untergeordnete Erschließung ihrer Innenstädte empfinden die meisten Bewohner heute als Mangel an Lebensqualität. Und Sanierung will man längst nicht mehr mit Kahlschlag gleichsetzen. Als Leitbild gewinnt die kompakte europäische Stadt des 19. Jahrhunderts, ausgestattet mit den baulichen Qualitäten von heute, an Bedeutung. Im Zentrum sollen sich die unterschiedlichen Funktionen wieder mischen und nicht irgendwo draußen an der Peripherie.

„Als urban gilt wieder die Melange aus Boulevard, Cafés, Restaurants, Ladengalerien und Passagen, darüber angeordnet Büros und Wohnungen; und an besonderen Orten wären Kinos, Theater oder Varieté zu lokalisieren“, schreiben Urbanisten wie Robert Kaltenbrunner.

Ähnlich wie in amerikanischen Städten fehlt in Istanbul eine kommunale planerische Steuerung der Stadtentwicklung bis heute nahezu vollständig. Auch die Sozialpolitik ist marginal. Bemerkenswerterweise führte das in den vergangenen Jahrzehnten trotz rasanter Bevölkerungsentwicklung nicht zum völligen Chaos. Auch ist Istanbul eine stark durchmischte Stadt geblieben. Der Metropole am Bosporus, die seit den 50er Jahren von einer auf etwa 15 Millionen Einwohner angewachsen ist, gelang es, riesige Ströme mittelloser Zuwanderer zu integrieren, ohne dass dies zu folgenreichen sozialen Verwerfungen geführt hätte. Seit den 1950er Jahren veränderten Hunderttausende von mittellosen Zuwanderern aus Anatolien das Erscheinungsbild Istanbuls: ohne zentrale Planung, ohne Baugenehmigungen und Böden, die ihnen nicht gehörten, errichteten sie immer neue Gebäude.

Sechzig Prozent des inzwischen auf 5.500 Quadratkilometer angewachsenen Stadtgebietes gehen nach Schätzungen von Experten auf diese zunächst illegal errichteten Siedlungen zurück, für die sich rasch die Bezeichnung Gecekondu etablierte, was so viel heißt wie „über Nacht gebaut“. Einmal errichtet, verhinderte das türkische Recht, dass die provisorischen Hütten ohne weiteres wieder abgerissen werden konnten.

Mehrere Amnestiegesetze führten seit 1966 dazu, dass aus den Besetzern zumeist städtischen oder staatlichen Bodens nach und nach stolze Grundbesitzer wurden. Dabei zeigte sich, dass die Verleihung von Besitztiteln, die in der Regel mit dem Anschluss an die öffentliche Versorgung mit Wasser und Strom einherging, letztlich dieselbe integrative Funktion erfüllte wie der öffentlich geförderte Wohnungsbau in den europäischen Städten. Sie verhinderte, dass in der Stadt Ghettos und an den Rändern Slums entstanden. Stattdessen entwickelte sich die erste Migrantengeneration zur neuen Mittelklasse. Die Armut wurde an die nächste Zuwanderergeneration weitergereicht.

Doch mit der neoliberalen Öffnung wachsen in Istanbul auch die Gegensätze zwischen wohlhabenden und heruntergekommenen Vierteln, die oft in unmittelbarer Nachbarschaft existieren. Noch ist der Trend zu umzäunten Nobelsiedlungen wie Kemer Country, Beykoz Konaklari oder Göktürk am Stadtrand allerdings überschaubar.