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die wahrheitZuckerhut am Brocken

Nach dem VW-Skandal entdecken die Brasilianer den Harz als Urlaubsziel.

Abwechslung zum ewigen Bossanova-Gedudel: Denkmal des unbekannten Torwarts auf dem Brocken. Bild: ap

Im Prozess um Lustreisen und Vergünstigungen verurteilte das Landgericht Braunschweig den früheren Chef des VW-Betriebsrates, Klaus Volkert, kürzlich zu zwei Jahren und neun Monaten Haft. Nach Ansicht des Gerichts hat Volkert zu Unrecht knapp zwei Millionen Sonderzahlungen erhalten. Volkert habe außerdem für seine damalige brasilianische Geliebte Adriana Barros Scheinverträge vereinbart, für die sie laut Anklage insgesamt 400.000 Euro kassiert haben soll. Laut waz-online berichtete ein Mitarbeiter der Konzern-Revision im Prozess über die Arbeit, die die Brasilianerin bei VW ablieferte: "Es wurden 31 DVDs übergeben." Darauf hätten sich Filmaufnahmen von mäßiger Qualität befunden, von denen einige mit Erklärungen in portugiesischer Sprache unterlegt waren. Der Revisor selbst hat sich eine DVD angesehen - und war überrascht: "Darauf waren Aufnahmen aus dem Harz zu sehen. Ein Bezug zu VW ist nicht erkennbar gewesen."

Was in der deutschen Öffentlichkeit bislang als dreiste Abzocke eines größenwahnsinnigen Gewerkschafts-Bonzen bewertet wurde, muss nach den jüngsten Entwicklungen in einem gänzlich anderen Licht gesehen werden - Adriana Barros Harzfilm könnte sich zu einem echten Glücksfall für Deutschland herausstellen, denn ihr Werk lief im brasilianischen Fernsehsender TV Globo und entfachte einen unglaublichen Harz-Hype unterm Zuckerhut. Brasilianische Opinion-Leader verbringen dieses Jahr ihren Urlaub vorzugsweise im nördlichsten deutschen Mittelgebirge. Alle wollen sie "Zum deutschen Zuckerhut", wie der Titel der Sendung übersetzt lautete.

Ortstermin am Brocken, der höchsten Erhebung des Harzes. Es weht ein eisiger Wind, doch die brasilianische Reisegruppe in ihren farbenfrohen Regencapes kriegt sich vor Begeisterung kaum mehr ein. "Wir kennen den Dschungel, den Amazonas", erzählt Giovane da Silva, ein 50-jähriger Halb- und Drehleiterimporteur aus Brasilia mit leuchtenden Augen, "aber ein so weithin bewaldetes Horstgebirge wie den Harz haben wir noch nie gesehen. Und dann dieser Regen hier - es ist einfach unglaublich, jetzt erst verstehe ich, was ein wirklicher Regenwald ist." Seine Frau Matilda pflichtet ihm bei. "Wie dieser Brocken über die Baumgrenze in die Krüppelholz- und Mattenzone hinausragt, das ist hinreißend exotisch!", meint die promovierte Architektin, während sie mit geübtem Griff die Kapuze festzurrt, um ihre Frisur vorm Harzer Dauerregen zu schützen. Kein Zweifel - der Harz, dieses 90 Kilometer lange und 30 Kilometer breite, ursprünglich schwer überschreitbare Mittelgebirge, hat es den gutsituierten Besuchern aus Lateinamerika angetan. Wer auf sich hält zwischen São Paolo und Rio de Janeiro, bucht dieses Jahr eine Harzreise.

Erich Kern, Leiter des Tourismusverbandes der Harzgemeinden, bestätigt, dass der Laden brummt wie schon lange nicht mehr. "Wir sind bis Ende Oktober ausgebucht. Die Brasilianer rennen uns regelrecht die Bude ein." Der umtriebige Tourismus-Manager hatte anfangs Probleme, Portugiesisch sprechende Reiseführer zu finden - doch mittlerweile konnte er ein spezielles Tourprogramm für die anspruchsvolle Kundschaft zusammenstellen: Regenwanderungen im nördlichen Harzvorland, Nostalgiefahrten mit der Harzquerbahn, Volkstanzabende in Wernigerode,. "Die Brasilianer sind begeistert", meint Erich Kern, "das ist für die mal eine schöne Abwechslung zum ewigen Bossanova-Gedudel an der Copacabana. Die Männer sind ganz wild auf unsere Harzer Bauernmädchen in ihren hochgeschlossenen Trachten. Die finden die viel sexyer als ihre halbnackten Samba-Tänzerinnen."

Rundum also alles gelungen, keine Probleme? "Na ja", räumt Kern widerwillig ein, "mit der Verkostung des Harzer Rollers in der Ilfelder Genossenschafts-Käserei tun sich die Latinos noch etwas schwer. Aber wir arbeiten daran." Erich Kern weiß selbstverständlich, wem die Region diesen unerwarteten Tourismus-Boom aus Übersee zu verdanken hat. "Wir überlegen, ob wir Klaus Volkert nicht die Ehrenbürgerschaft von Wernigerode verleihen sollen. Nach seiner Haftentlassung möchten wir ihn hier gern mit allen Ehren empfangen. Auch ein lebenslanges Gratis-Urlaubsrecht in unserem wunderschönen Mittelgebirge für Volkert und seine Begleitung wird bereits angedacht."

Fazit: Selten wurden Korruptionsgelder so gut investiert. Vor allem, wenn man bedenkt, dass das Ganze auf einer Verwechslung beruht: Seine Geliebte Adriana Barros, so Volkerts Idee, hätte eigentlich einen abendfüllenden Dokumentarfilm über den damaligen VW-Personalvorstand Peter Hartz drehen sollen.

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