Gerüche der Straße

Vom kleinen und großen Glück im Nordosten Chinas. Die Stadt Harbin mit ihren Blechlawinen, Flickschustern und dem städtischen Filz. Von schlichten Träumen des Plastiksammlers und tierfreundlichen Freizeitbeschäftigungen der Reichen

VON SÖREN URBANSKY

Das Schwimmen im Fluss ist für Zhang Maer ein Morgenritual, keinen Tag des kurzen Sommers in Harbin lässt er verstreichen, ohne zu baden. Schon um halb sechs radelt der Rentner an das Ufer des Songhuajiang und hängt Hose und Hemd an sein schwarzes, schweres Fahrrad. Auf der Promenade, die seit einem halben Jahrhundert Stalinpark heißt, herrscht um diese Zeit längst Hochbetrieb. Dumpf dröhnen die Trommeln einer Seniorengruppe, die sich im Formationstanz im übt, bis zur Ufertreppe. Am Parkeingang verkauft ein hagerer Mann Reisbällchen und Süßkartoffeln, die in einer Blechtonne auf Kohlen dampfen. Harbin erwacht ganz früh, wenngleich dann im Nordosten Chinas die Sonne schon hoch am Himmel steht.

Wang Jianan,der Müllsammler

Nur zwei Blöcke weiter wälzt sich die Blechlawine aus übervollen Stadtbussen, bordeauxroten Jetta-Taxen und allerlei abenteuerlichen dreirädrigen Gefährten über das Spinnennetz von Hochstraßen, das seit den frühen Neunzigerjahren das Bild der Sechs-Millionen-Stadt prägt. Es stinkt nach Zweitakterbenzin, hupend drängeln die Chauffeure der schwarzen Karossen. Die Bonzen im Fond schützen sich durch abgetönte Scheiben vor der Wirklichkeit. Das Gros der zehn Millionen Einwohner klemmt hingegen im Bus oder hockt auf Ladeflächen, den Abgasen der Autos ausgeliefert.

Eine Etage tiefer, unter den Stelzen einer Schnellstraße, klopft Wang Jianan mit einem Holzstock auf einen Plastikkanister, der am Lenker seines Dreirads baumelt. Alle paar Sekunden hallt sein Trommeln durch die Höfe, seit vier Jahren schon. „Plastikflaschen“, ruft der vierzigjährige Wang und stemmt sich in die Pedale, um einen Buckel zu nehmen. Herr Wang sammelt Kunststoffmüll, an manchen Tagen auch Styropor, das er abends drei, vier Meter hoch gestapelt auf seinem Lastenrad zur Sammelstelle bringt. Ein paar Yuan verdient der ehemalige Arbeiter damit am Tag. Der Wertstoffkreislauf der Volksrepublik reguliert sich durch die Armut seiner Bewohner.

Früher musste Wang nicht so schwer rackern. Die Arbeit auf den Ölfeldern von Daqing, eineinhalb Zugstunden von Harbin entfernt, war auch hart, aber einträglicher und sicher. Das Fördergebiet der größten Ölvorkommen Chinas galt noch vor fünfzehn Jahren als ein wirtschaftliches Vorzeigeprojekt der kommunistischen Führung. Jetzt, da die Quellen versiegen und die Fördermengen abfallen, kämpft die Millionenstadt mit hoher Arbeitslosigkeit, die weit über den offiziellen Statistiken liegt. Herr Wang lebt nun in der Provinzhauptstadt Harbin, wo es mehr Arbeit und Wohlstand gibt. Wang träumt von einem roten Longxin-Motorrad, mit dem er blitzschnell Fahrgäste an den sich stauenden Autos vorbeichauffieren kann.

Li Fangbin,Studentin und Model

Jedermann auf den Straßen und in den Gassen handelt, repariert oder produziert irgendetwas: Auf Schritt und Tritt tummeln sich Schneider, Fahrradmechaniker, Friseure, Flickschuster, Obstverkäufer und bieten ihre Dienstleistungen für ein paar Mao feil. Jetzt im Sommer verkaufen die Bauern Melonen direkt von ihren Fuhrwerken.

Es sind vor allem die zehn Millionen Menschen, die Harbin zur typisch chinesischen Stadt werden lassen. In den letzten noch nicht planierten engen, rußgeschwärzten Gassen von Daowai, dem alten Chinatown der einst multikulturellen Metropole, ist dieser Eindruck besonders intensiv. Auf einen Gepäckträger sind drei tote Hunde gespannt, gegerbt leuchtet ihr rosa Fleisch. Die koreanische Minderheit hat auch hier das Fleisch zu einer teuren Spezialität werden lassen. Die Felle tauchen nicht selten in Geschäften in Europa als lange Mäntel, Besätze für Pullover oder Innenfutter für Stiefel und Handschuhe wieder auf. Nur hier in Daowai, das mancherorts noch an die Arbeiterwohnarchitektur von Manchester oder Lodz erinnert, haben Fahrradrikschas noch eine Fahrgenehmigung und konkurrieren mit den knatternden Mopeds.

Li Fangbin hasst dieses zurückgebliebene Viertel hinter der Eisenbahnlinie, sie ekelt sich vor dem modrigen Geruch der Straßen, auch vor einigen Menschen, sagt sie und prüft ihr Make-up im Spiegel. Die bildhübsche junge Frau hätte eigentlich gerade eine BWL-Vorlesung. Doch vor einer Stunde rief Jiajia von der Modelagentur an. Jetzt läuft sie mit sechzehn anderen jungen Mannequins auf dem Laufsteg im vierten Stock eines Jugendstilbaus an der Uferpromenade, das Holz knarrt im Takt ihrer Schritte. Jiajia ist eigentlich ein ruhiger Mann. Seine Baskenmütze setzt der untersetzte Manager immer verkehrt herum auf, darüber die Sonnenbrille. Doch heute ist er aufgeregt, der Auftraggeber der Schau am Abend verlangt internationale Gesichter, erst dann gibt es auch mehr Geld. Die hochgewachsene Fangbin soll die paar weißen und schwarzen Jungs an ihrer Uni fragen, Aussehen und Modelerfahrung seien heute zweitrangig, meint Jiajia.

Familie Zhou,die reichen Städter

Nördlich des Flusses gibt es eine andere skurrile Attraktion. Seit vor zwei Jahren ein aus dem Gehege ausgerissener sibirischer Tiger, der unter dem Namen „Nummer 83“ bekannt wurde, einen Tierpfleger zerfleischte, ist der Sibirische-Tiger-Wildpark im Songbeixin-Viertel zu einem lukrativen Touristenmagnet geworden. Familie Zhou ist zum Vergnügen in den Park gefahren. Zu seinem zehnten Geburtstag hat der Sohn Huanpeng eine kräftige Kuh von seinem Vater geschenkt bekommen. Damit füttert er die Bestie. Camcorder und Fotoapparat fixieren das Spektakel. Vater Daqian kann sich solche Späße leisten. Er arbeitet seit einigen Jahren in der Stadtverwaltung, was in China nicht selten der Lizenz zum Gelddrucken gleichkommt.

Gerade in Harbin haben Korruption und Seilschaften eine lange Tradition; der „BMW-Fall“ vom Oktober 2003 ist nur die Spitze des Eisbergs. Damals hatte ein Bauernkarren auf dem Weg zum Markt den silbergrauen BMW einer wohlhabenden Harbinerin leicht gestreift. Der herüberhängende Porree hatte einige Dreckspuren an der Nobelkarosse hinterlassen. Die Fahrerin raste wutentbrannt in die schaulustige Menschenmenge, zwölf Menschen wurden dabei verletzt, eine Bäuerin wurde von der schweren Limousine an einem Baum zerquetscht. Die Amokfahrerin kam mit einer sehr milden Strafe davon, schnell machten Gerüchte darüber, dass sie die Verwandte eines KP-Hierarchen sei, in den Diskussionsforen der populären Website Sina.com die Runde. Der Sturm der Entrüstung zwang letztlich auch die Zeitungen, über die Affäre zu berichten. Im Januar 2004 ordnete die Partei über den „BMW-Fall“ eine Informationssperre an, Sina.com musste alle einschlägigen Seiten schließen. Doch insbesondere im Zusammenhang mit dem Verkauf maroder Staatsunternehmen der Provinz ist die Stadt in ganz China bekannt als ein Nest des Filzes und der krummen Machenschaften.

Trotz einer raffinierten Desinformationspolitik wissen alle, wer die Menschen sind, die in den schönen neuen Hochhäusern wohnen und die großen Wagen fahren: Es sind zumeist Funktionäre der Städte und Landkreise, Leute wie der Vater von Huanpeng.

Der alte Zhang, der zähe Wang, die junge schöne Li und der reiche Zhou leben alle in dieser Stadt, in der es selbst im Juni schon um acht Uhr finster wird. Die zentralisierte Zeit im Reich der Mitte lässt die Ränder im Osten früher hell, im Westen später dunkel werden. Jeder nutzt den kurzen Sommer auf seine Weise.