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ZivilcourageSchulstunde in Sachen Zivilcourage

"Mary Herrmann war Zeugin eines tödlichen Streits am Tegeler See geworden. Ein Badegast hatte Jugendliche darauf aufmerksam gemacht, dass sie ihren Müll nicht liegen lassen sollen. Es kam zum Tumult, ein 23-Jähriger wollte vermitteln. Daraufhin erstach ihn ein 17-Jähriger; im Januar wurde er zu acht Jahren Haft verurteilt. Mary Herrmann hatte das Geschehen am See fassungslos beobachtet. Seitdem glaubt sie nicht mehr an Zivilcourage und fragte die LeserInnen, wie sie darüber denken. Geantwortet hat auch eine Schulklasse aus Pankow.

Die 9.4 des Rosa-Luxemburg-Gymnasiums in Pankow passt nicht zu dem Klischeebild, das man von Berliner Schulen hat. Denn unter den 31 Schülern und Schülerinnen sind keine mit ausländischem Pass. Nur Ozan ist noch nicht lange Deutscher. Er kam als Zweijähriger aus dem kurdischen Teil der Türkei nach Berlin. Sein Herz schlage auch mit deutschem Pass für das kurdische Volk, meint der 15-Jährige. Die anderen Jugendlichen kramen in der Vergangenheit und finden weit zurück bulgarische und polnische, russische und französische Vorfahren. Ganz gewöhnliche Berliner Abstammungen haben die Jugendlichen also. Zudem kommen die meisten aus bildungsbewussten Familien. Sie heißen Max oder Sven, Friederike oder Juliette, Alexej oder Theo, Oskar, Helene oder Tizian. 14- und 15-jährige Teenager sind es, noch Kinder und schon Erwachsene.

Da sie an der Schwelle stehen zum Leben, in dem sie für das, was sie tun, Verantwortung übernehmen müssen, hat Sabine Jaschke, die Deutschlehrerin, mit ihnen das Thema Zivilcourage durchgesprochen. Dabei fiel ihr der Artikel von Mary Herrmann zur rechten Zeit in die Hände. Sie ermunterte die Jugendlichen, Leserbriefe zu schreiben. Aus den vielen Vorschlägen zur Frage, ob man in Situationen, die man als ungerecht empfindet, eingreifen soll oder nicht, machten sie einen einzigen Text. Darin steht das realistische Fazit: "Wenn alle sich einmischen würden, hätten die Angreifer oft keine Chance, aber zu viele schauen einfach nur zu."

Man merkt, dass die Jugendlichen das nicht gut finden. Im Gegenteil: Sie wirken so, als ob Solidarität mit jenen, die ungerecht behandelt werden, ein Motto ist, auf das sie sich gern verständigen. Das mag auch mit Rosa Luxemburg, der Namensgeberin des Gymnasiums, zu tun haben. Ihr Geist ist in der hundert Jahre alten Schule spürbar. "Vordergründig sind wir alle hier eher links", sagt einer der Schüler. Was mit "links" genau gemeint ist, können die Jugendlichen jedoch nicht so genau erklären.

Vortrag über Neonazis

In der letzten Deutschstunde vor den Osterferien steht noch einmal das Thema Zivilcourage auf dem Programm. Zwei Schüler, Theo und Alexej, halten einen Vortrag über Neonazis. Theo erklärt, dass die Neonazis nicht in Vereinen, sondern in Kameradschaften organisiert sind. Kommt es zu Schwierigkeiten mit dem Rechtsstaat, können immer nur Einzelne angeklagt werden, nicht aber die ganze Gruppe, erzählt er. Diese Taktik und die dezentrale Art der Informationsverbreitung untereinander, hätten sie sich von den autonomen linken Gruppen abgeschaut.

Alexej dagegen trägt die konkrete Information über Neonazis bei. Er spielt eine paar Songs von rechten Bands vor, analysiert ihre Kleidermarken und Codes. 88 - Heil Hitler, 18 - Adolf Hitler, S8 - Sieg Heil. "1" steht für den ersten Buchstaben im Alphabet, "8" für den achten. "Auch 14 gehört dazu." Die Zahl sei Symbol für den amerikanische Neonazi-Leitspruch in 14 Wörtern: "Wir müssen den Fortbestand unserer Rasse bewahren und die Zukunft der weißen Kinder sichern." Diszipliniert hören die Mitschüler und Mitschülerinnen zu.

Die Information habe er im Netz gefunden, sagt Alexej. Aber an die Musik komme man leicht ran. Bei der nächsten Wahl verteilen die Rechten sicher wieder "Schulhof-CDs". Die könne man bei der Linkspartei abgeben und kriege noch ein paar Euro dafür, berichten die Jugendlichen.

Die Frage, ob es auch Schüler und Schülerinnen mit rechter Gesinnung an der Schule gibt, wird verneint. Nur einige Konservative seien unter ihnen. Die würden das aber nicht raushängen lassen. "Konservativ heißt ja auch bewahrend", meint Friderike, die Klassensprecherin. "Rechtsradikale sprechen von Werten und widersprechen sich schon im nächsten Satz", meint Theo und bringt seine Beobachtungen so noch einmal ein. Bei den Linken könne das auch sein, nur sei es ihm noch nicht so krass aufgefallen.

Mut oder Feigheit

Zurück zum Thema Zivilcourage finden die Jugendlichen erst nach der Pause. Sven, das Mathegenie, hofft, dass er nie in Situationen kommt, die er nicht meistern kann. Tizian führt Svens Hoffnung noch aus. "Natürlich möchten wir in ungerechten Situationen Zivilcourage zeigen, aber wir wissen nicht, ob wir den Mut dazu haben." Da wird Oskar, einer der gerne kommuniziert, offensiv: "Jeder von euch würde sagen, er würde was machen." Aber er habe einen Freund, der sei zusammengeschlagen worden und blutend auf der Straße gelegen, und niemand habe geholfen. "Ihr sagt, ihr greift ein, aber ich glaube es nicht. Es ist selbstverständlich, dass man hilft, das sagt jeder."

Friderike findet die richtigen Worte, um weiterzumachen. Sie glaubt nicht, dass es mutwillig ist, wenn man nicht hilft. "Wir haben das in der Klasse ja auch diskutiert, aber wir sind zu keinem Schluss gekommen." Auch Ozan ist frustriert: "Wenn man die Polizei ruft, dauert es achtzig Jahre, bis sie kommt", meint er. "Aber die Polizei rufen ist etwas", widerspricht Juliette. "Man fühlt sich nicht so machtlos."

Die Klasse ist einigermaßen bei der Sache. Plötzlich allerdings kommt Unruhe auf. Sie müssten jetzt gehen, sagen einige. Die neunten Klassen am Rosa-Luxemburg-Gymnasium nämlich haben sich verpflichtet, ein Waisenhausprojekt in Kenia finanziell zu unterstützen. Dafür wollen sie in der Mittagspause Würstchen verkaufen, um so etwas Geld einzunehmen. Beladen mit Brötchen, Wienern und einem Riesenglas Gurken ziehen sie davon.

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