Abitur ganz ohne Lehrer: „Unser eigenes Ding“
Zehn SchülerInnen träumten nicht nur von einer freieren Form des Lernens: Sie verließen die Schule, um sich in Eigenregie aufs Abi vorzubereiten. Nun stehen die Prüfungen an.
"Hey, teachers, leave us kids alone!" (Pink Floyd) "Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit" (Tocotronic)
Auf den Tischen liegen Formelsammlungen, Grammatikblätter und gelbe Reclamheftchen. Schillers "Räuber". Kafkas "Proceß". Daneben Kaffeebecher, leere Bäckertüten, Zigarettenpapier und Tabak. Alwin Franke nimmt sich ein Blättchen und dreht sich eine. In jeder anderen Schule würde der Lehrer ihn jetzt ermahnen. Oder gleich aus dem Klassenzimmer schmeißen. Hier nicht. Denn hier sind Alwin und seine Klassenkameraden nicht nur Schüler - sondern auch die Schulleiter.
Alwin und neun andere Schüler haben sich im vergangenen Jahr von ihren Waldorfschulen abgemeldet und eine eigene Schule gegründet. Seit August gehen sie dorthin. Sechs Tage die Woche, acht Stunden am Tag. Ihr Ziel: sich selbst den Stoff fürs Abitur beibringen. In dieser Woche schreiben sie ihre erste Prüfung. Nun wird sich zeigen, ob ihr Experiment erfolgreich war.
Möglich ist dieses Alleingang-Abi über die sogenannte Schulfremdenprüfung. Eigentlich sollen dadurch Berufstätige eine Chance aufs Abi bekommen - an Systemausbrecher wie die Freiburger Schüler hatten die baden-württembergischen Behörden wohl kaum gedacht.
Die Idee kam Alwin und seinen Freunden bei einem Ausflug im März 2007. Damals hatten die Schüler schon einen losen Lernzirkel, in dem sie über Internationalen Währungsfonds, Weltbank und Marxismus diskutierten. Nun saßen sie im Zug zurück vom Chiemsee, wo sie den Gründer des Regionalgelds "Chiemgauer" besucht hatten. Sie waren beeindruckt, wie der Lehrer Christian Gelleri dort zusammen mit Schülern eine alternative Währung eingeführt hatte. Das war nicht nur theoretisches Gefasel von einer besseren Welt, das war Wirklichkeit. An ihrer Schule hatten sie dagegen Tag für Tag erlebt, wie Lehrer ihnen im Frontalunterricht Daten, Zahlen und Fakten vorsetzten. Und hatte nicht ihre Schule gerade ausgerechnet ihre beiden Lieblingslehrer geschasst? Da sagte plötzlich einer im Zugabteil: "Lasst uns doch auch unser eigenes Ding machen! Unsere eigene Schule." Gesagt, getan. Sie gründeten den Verein Methodos. Und legten los.
Schön ist es nicht gerade, das Klassenzimmer, das sich die SchülerInnen im Flachbau der Paulus-Gemeinde eingerichtet haben. Doch mehr gab das Budget nicht her. Tische mit grauer Platte, ein graues Stoffsofa, graues Linoleum. In Glasvitrinen stapeln sich Lehrbücher und Lexika, die die Schüler gekauft oder von zu Hause mitgebracht haben. "Propyläens Weltgeschichte" steht da - Band fünf und sieben fehlen.
Milena Minuth, 19, ist gerade gekommen, es ist halb zehn an diesem Mittwochmorgen im März. Sie hat drei Leitz-Ordner mitgebracht. Mathe, Englisch, Geschichte. "Was mach ich heute?", fragt sie sich - und vertieft sich in den Geschichtsordner, schreibt Karteikarten. "Politische Kultur im Kaiserreich" steht auf einer.
In der anderen Ecke sitzt Alwin mit Lilly Neu und Lenya Bock, wie Alwin und Milena 19 Jahre alt. Die drei lernen heute Deutsch. Kleists "Michael Kohlhaas". Das Buch ist Pflichtstoff für das Abitur. Denn völlig frei sind die Schüler nicht, die Grenzen setzt das baden-württembergische Zentralabi.
Welche Rechtsvorstellungen sich in "Kohlhaas" widerspiegeln, fragen sich die drei, das führt sie irgendwann zu Rousseau und Hobbes. "Bei Rousseau ist die Natur von Natur aus gut", sagt Lilly. "Bei Hobbes hat im vorstaatlichen Zustand jeder eine Keule", sagt Alwin. "Das mit dem Menschenbild ist mir klar", sagt Lenya. "Aber wie war das noch mal mit der Vertragstheorie?" Ob sich ihre Fragen bis zum Abi klären lassen?
Im Kultusministerium ist man skeptisch. "Nicht zur Nachahmung empfohlen", heißt es dort zu den autonomen Abiturienten. Auch der Philologenverband wettert: "Ein unnötiger Irrweg." Denn externe Prüflinge haben es schwerer: Weil sie keine Noten aus Klasse zwölf und dreizehn einbringen können, müssen sie ihr Wissen in sieben zusätzlichen Prüfungen beweisen, neben den vier schriftlichen und der einen mündlichen, die sowieso Pflicht sind.
Doch sollten die Schüler im Alleingang ihr Abi genauso gut hinbekommen wie im Korsett der normalen Schulen - die Skeptiker wären vorgeführt. Andersherum gilt aber auch: Sollten die Schüler durchs Abitur rasseln, können sich jene bestätigt fühlen, die in den Schülern von Anfang an vor allem eines sahen: idealistische Spinner.
Ganz auf Hilfe verzichten die SchülerInnen deshalb auch nicht. Sie beschäftigen Privatlehrer auf Stundenbasis. Die überprüfen, ob die Schüler auf dem richtigen Weg sind, etwa mit Probeklausuren oder Abfragen. Die Lehrer kommen von Gymnasien und Waldorfschulen und arbeiten für 25 Euro die Stunde.
Gregor Wittkop, 46, ist ihr Deutschlehrer. Eigentlich unterrichtet er im württembergischen Böblingen. Nun kommt er an Samstagen die 200 Kilometer nach Freiburg gefahren. Er schwärmt vom "anarchischen Charme" des Projekts. "Tausende Schüler haben schon mit dem Gedanken gespielt: Wie wäre es, wenn wir unseren eigenen Kram machen, die Schüler hier haben aus der Idee Wirklichkeit gemacht."
Doch die Wirklichkeit hat der Gruppe auch Grenzen aufgezeigt. Am Anfang wollte sich Wittkop so wenig wie möglich einmischen. Die Schüler wollten selbst das Lernen lernen. Doch inzwischen drängt die Zeit. Die Schüler kommen manchmal schon morgens um sieben und gehen erst abends um sieben. Bevor sie sich völlig verrennen, greift Lehrer Wittkop inzwischen ein. Apfel und Schlange: Die christliche Symbolik in Kleists "Kohlhaas" erkennen sie schnell - die entsprechenden Bibelstellen liefert ihnen an diesem Mittwoch Wittkop. Er schnappt sich ein Altes Testament und liest aus dem Buch Genesis vor: "Von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen " Wollten die autonomen Abiturienten sich das nicht alles selbst erarbeiten?
Einiges ist schiefgelaufen an der neuen Schule. Mal haben die Schüler vergessen, den Lohn an ihre LehrerInnen zu überweisen - das gab Ärger. Mal stand ein Lehrer vor verschlossener Tür. Die Mail, dass er zu Hause bleiben solle, hatte er nicht bekommen - auch das gab Ärger. "Wir mussten erst lernen, Arbeitgeber zu sein", sagt Lenya. Von zwei der acht Lehrer haben sie sich sogar wieder getrennt - "in beiderseitigem Einvernehmen", wie Alwin es formuliert.
Überhaupt das Geld: Fast 50.000 Euro kostet das Schulexperiment, für den Raum, die Bücher, die Lehrer. 15.000 davon bezahlen die Eltern der Schüler. 18.000 Euro sind Spenden - fehlen noch mehr als 15.000 Euro.
Eigentlich wollten die Schüler auch eine Stunde am Tag Musik machen, Tango Argentino oder schwedischen Bugg tanzen. In einem geräumigen Nebenraum steht auch ein schwarzer Flügel, aber die Zeit reicht nicht mehr.
Das Einzige, was jetzt zählt, ist das Abitur. Milena sagt: "Bei mir wird es eng." Sie sitzt an ihrem Geschichtsordner, kaut auf ihren Fingernägeln und ruft Alwin zu: "Was war noch mal der Kapp-Putsch?" - "1920", antwortet Alwin. "Nein, was. Nicht wann." Alwin nuschelt etwas von Wolfgang Kapp, Weimarer Republik und Reichswehr und widmet sich wieder seinem Stoff. Ob das bei Milena angekommen ist?
"Wir haben eine Verantwortung", sagt Alwin in einer Zigarettenpause. Für sich selbst, meint er. Für die anderen Schüler. Aber vor allen Dingen auch: für ihre Idee.
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