Debatte Olympia in China: Reif für Demokratie
Die Demonstrationen gegen China helfen dem Land letztlich bei seiner Öffnung. Darüber dürfen auch die rückständigen Reaktionen des Regimes in Peking nicht hinwegtäuschen.
D iu lian - sein Gesicht verlieren: Nichts fürchten Chinesen mehr, besonders Geschäftsleute. Das steht zumindest in jedem China-Knigge. Hart verhandeln ist erlaubt. Aber im Ergebnis sollte der westliche Geschäftsmann seinem chinesischen Gegenüber stets das Gefühl geben, es handele sich um eine gemeinsam erzielte Einigung. Kommt dieser Eindruck nicht zustande, ist es aus mit der Beziehung. Was diese China-Ratgeber allerdings verschweigen: Der Kontaktabbruch ist keineswegs endgültig. Ergibt sich eine neue Gelegenheit, wird der Kontakt gerne wieder aufgenommen. So viel Pragmatismus ist schon drin.
Was das Thema Menschenrechtsverletzungen betrifft, haben die demokratischen Regierungen des Westens die China-Ratgeber anscheinend zu sehr verinnerlicht. Zwar gab es ab und zu aus Frankreich oder den USA vorsichtige Kritik an der Menschenrechtssituation in China, und Kanzlerin Angela Merkel empfing den Dalai Lama im Kanzleramt. Aber das sind Ausnahmen, weil befürchtet wird: Wer sich zu sehr vorwagt, der könnte es sich mit der chinesischen Führung verscherzen.
Beim Treffen der Kanzlerin mit dem Dalai Lama waren die deutschen Diplomaten hinter den Kulissen lange darum bemüht, die Gemüter der chinesischen Regierung zu beruhigen. Zu groß war die Angst, Peking könnte "sein Gesicht verlieren" - mit den entsprechenden Folgen bei Geschäftsabschlüssen. Dabei hat gerade Merkels Treffen mit dem Dalai Lama gezeigt: China protestiert lautstark und sagt unbedeutende Konsultationen ab. Doch nicht ein deutsches Unternehmen musste büßen. Alle China-Geschäfte liefen weiter.
Anders als die Politiker haben die Menschenrechtsaktivisten verstanden, dass es nicht nötig ist, sich von der chinesischen Regierung einschüchtern zu lassen. Geschickt nehmen sie den olympischen Fackellauf zum Anlass, auf Chinas Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen. Spätestens seit den Protesten in London und Paris ist aus der Propagandashow ein quälender Spießrutenlauf für die chinesische Regierung geworden. Was für eine Blamage für Peking, ein wahrer Gesichtsverlust.
Ob es Zufall ist oder die Menschenrechtsaktivisten diesen Plan lange im Voraus strategisch ausgetüftelt haben? Auf jeden Fall hatten sie den richtigen Riecher für eine angemessene Protestform. Zumal in China selbst Proteste kaum zu erwarten sind, da Demonstranten Folter und lange Haftstrafen drohen. Selbst regierungskritische Schriften im Internet werden von den Behörden rigoros bestraft.
Viele fragen nun besorgt: Was bringen die symbolischen Proteste beim Fackellauf? Besteht nicht die Gefahr, dass das chinesische Regime in eine Art Trotzhaltung verfallen könnte und umso vehementer unliebsame Kritiker wegsperrt? Mit Blick auf die düsteren Bilder, die derzeit aus Tibet um die Welt gehen, ist diese Befürchtung berechtigt. Auch die jüngsten Verhaftungen von Menschenrechtsaktivisten in Peking stimmen nicht gerade hoffnungsvoll. Und doch ist wenig wahrscheinlich, dass die Zentralregierung allgemein wieder die Zügel anzieht. Denn das heutige China ist nicht mehr das Land, das 1989 mit Panzern die junge Demokratiebewegung niederwalzte.
Der 20 Jahre andauernde Wirtschaftsaufschwung, die Globalisierung, ein rasant wachsender Mittelstand, der Einzug der Medien- und Internetgesellschaft, hunderttausende, die in den USA oder Europa studiert haben - all diese Entwicklungen sind an der Zentralregierung nicht vorbeigegangen. Heute wird der Regierungsapparat nicht mehr von verbohrten Ideologen dominiert, sondern von pragmatisch orientierten Technokraten, von denen einige im Ausland studiert haben. Für sie sind Demokratie, Föderalismus und Mitbestimmung keineswegs fremd.
Bevor es zu den Ausschreitungen in Tibet kam, hatte die Zentralregierung angekündigt, die Medienzensur zu lockern - wenn auch nur temporär. Dieser kurze "Frühling der Pressefreiheit" soll zunächst bis zum Ende der Olympischen Spiele gelten. Mit spürbaren Folgen: Junge Chinesen, die die Kulturrevolution selbst nicht mehr erlebt haben, haben keine Hemmungen, ihre persönliche Meinung vor laufender Kamera kundzutun. Daraus wächst zwar noch keine neue Demokratiebewegung, aber es entstehen beachtliche Freiräume.
Das Regime meint es also durchaus ernst, wenn es von zaghaften Ansätzen demokratischer Reformen spricht. Zudem überwacht es seine Bürger nicht mehr so streng wie früher. Das belegen - so makaber es klingt - besonders die Demonstrationen in Tibet. Erstmals seit 20 Jahren kam es zu solchen Protesten.
Auf diesen Fortschritt reagierte das Regime zwar wieder mit Maßnahmen der alten Zeit: Massenverhaftungen, überzogenen Haftstrafen, brutalen Übergriffen der Ordnungskräfte gegenüber Demonstranten. Doch: So viel Religionsfreiheit wie in den vergangenen Jahren hat es lange nicht mehr gegeben - vor allem nicht in Tibet. Kritiker mögen die religiösen Rituale als Folklorekitsch für Touristen abtun. Doch sie ermöglicht den ethnischen Minderheiten eben, ihre Traditionen zu pflegen - und darauf stolz zu sein.
Damit haben die Tibeter noch lange keine Unabhängigkeit. Die Zentralregierung hat aber auch nicht vor, sie dauerhaft mit Gewalt zu unterdrücken. Aus ihrer Sicht ist Tibet eine rückständige Provinz, an der der Wirtschaftsboom bislang vorbeigegangen ist. Deshalb hat sie 2006 eine Bahnlinie zwischen Peking und Lhasa vollendet. Sie sollte kein Instrument sein, mit dem die Tibeter gedemütigt und sie ihrer vermuteten Rohstoffe beraubt werden, sondern ein Infrastrukturprojekt, damit Tibet besser an die reichen Provinzen angebunden ist.
Die Führung in Peking wollte das Problem Tibet wirtschafts- und sozialpolitisch lösen. Offenkundig hat sie unterschätzt, wie wichtig den Tibetern ihre ethnisch-religiöse Eigenständigkeit nach wie vor ist. Ein fataler Irrtum. Noch ein größerer Irrtum ist jedoch die Annahme der Zentralregierung, China sei noch nicht reif für die Demokratie, weil es ohnehin schon so großen Veränderungen unterworfen sei. Fragt sich: War China denn jemals reif für eine Diktatur?
Völlig in Vergessenheit verdrängt wird, dass China auf mehr als drei Jahrzehnte Demokratie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückblicken kann. Außerdem ist Taiwan ein Musterbeispiel für eine Demokratie chinesischer Prägung. Und auch Hongkong ist nicht im Chaos versunken, als die Briten wenige Jahre vor der Übergabe an China eilig die Demokratie in der Kronkolonie einführten.
Die Proteste gegen den Fackellauf werden das Regime in Peking nicht zu Fall bringen. Aber sie werden die Zentralregierung gewaltig ärgern. Ein Gesichtsverlust eben - den sie verkraften wird. Chinas Beziehungen zum Westen bleiben davon unberührt. Zugleich wird das Regime ein wenig mit demokratischen Gepflogenheiten vertraut gemacht. Das kann ihm nicht schaden. Schade, dass es diese Botschaft bislang nicht verstanden hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod