Parlament II: Wirtschaftssenator spricht EU-Richter schuldig
Der Senat rüstet sich für den Fall, dass die EU sein Vergabegesetz kippt. Dies verpflichtet Empfänger öffentlicher Auftrage zu 7,50 Euro Mindestlohn. CDU kritisiert das Gesetz als "Marketing-Gag", Grüne fürchten Anti-EU-Stimmung.
Eine der wichtigsten Fertigkeiten jedes Politikers ist es, anderen Menschen überzeugend die Schuld für irgendetwas zu geben. Das müssen sie sogar können, sonst würden sie einander und die Öffentlichkeit ständig mit Differenzierungen langweilen. Ein anschauliches Beispiel für diese Kunst gaben am Donnerstag die Redner der Aktuellen Stunde im Abgeordnetenhaus.
Dort drehte sich alles um die Frage: Was kann der Senat künftig gegen die Zahlung extremer Niedriglöhne in Berlin tun? In der vergangenen Woche hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) überraschend das niedersächsische Vergabegesetz gekippt. Nun fürchtet Rot-Rot, dass die Luxemburger Richter ihr erst zum 1. April geändertes Vergabegesetz zu Fall bringen. Darin verpflichtet der Senat Auftragnehmer des Landes und deren Subunternehmer, mindestens 7,50 Euro pro Stunde zu zahlen.
Ein besonders schönes Beispiel der Schuldvergabe lieferte Wirtschaftssenator Harald Wolf. Er verdammte das "politische Urteil" der Richter und deren "neoliberalen Zeitgeist". Immerhin widerspreche die Gerichtsentscheidung aller bisheriger Gesetzgebung - in der EU wie in Deutschland. Nun müsse die Bundesregierung handeln: "Wir brauchen dringend die Verbindlichkeit von Mindestlöhnen auf nationaler Ebene." Mit einer Bundesratsinitiative will Wolf Druck auf den Bund machen.
Berlins Verwaltungen sollen bis aus weiteres "die Füße still halten", forderte der Linkspartei-Politiker. Soll heißen: Erst müssen sich die Landesjuristen gerichtsfeste Vorgaben für die Behörden ausdenken, dann können diese öffentliche Aufträge vergeben. Bereits in der kommenden Woche soll dieser Stillstand laut Wolf enden.
Die CDU gab nicht der EU, sondern dem Senat die Schuld. Das EuGH-Urteil sei "nicht vom Himmel gefallen", sagte der Unions-Wirtschaftspolitiker Heiko Melzer. Anstatt auf die Gerichtsentscheidung aus Luxemburg zu warten, habe Rot-Rot um des "Marketing-Gags" willen den Mindestlohn-Passus "ins Gesetz gepresst". Nur zwei Tage nach dessen Inkrafttreten am 1. April verkündete das EuGH seine Entscheidung zum niedersächsischen, Berlins sehr ähnlichen Vergabegesetz.
Die Grünen-Wirtschaftsexpertin Lisa Paus warf der Linkspartei vor, sie wolle die Gerichtsentscheidung als Vorwand zur Ablehnung des EU-Grundrechtevertrags Ende Mai im Bundesrat nutzen. Die Bundesspitze der Linkspartei fordert dies seit langem von den Berliner Genossen. Die Verabschiedung des EU-Reformvertrags sei jedoch nötiger denn je, erklärte Paus: "Nur das schafft schnell neue europäische Grundlagen, anhand derer der EuGH im nächsten Einzelfall anders entscheiden müsste."
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