Kolumne Klatsch: Der verschwundene Klavierlehrer

Fünfzig zu werden ist kein Verdienst. Man sollte, anstatt zu feiern, nach Oberbayern oder sonst wohin fahren.

Nicht, dass ich nicht gerne feiere. Im Gegenteil. Ich nutze fast jede Gelegenheit, mit Freunden, Kollegen und der lieben Verwandtschaft anzustoßen. Kürzlich haben wir sogar den Aufbau der Tischtennisplatte zum Anlass genommen, ein kleines Einweihungsfest zu geben. Es gibt eigentlich immer etwas zu feiern. Den Frühlingsanfang, den Mondwechsel, den Ferienbeginn und das Ferienende. "Festsau" nannte mich mal ein Freund und er meinte es wohlwollend.

Nur mein Geburtstag, der taugt gar nicht als Festtag. Der diesjährige schon 50-mal nicht. Es gibt dafür keinen Grund, ich habe ja dazu nichts geleistet. Um zu verhindern, dass andere das anders sehen, verstecke ich mich an diesem Tag. Vor genau zehn Jahren, beim 40., fuhr ich ziellos durch Oberbayern und lief ein paar Stunden durch die Landschaft. Das Handy ließ ich zu Hause. Es war ein sehr schöner Geburtstag. Nur Kühe schauten mich an und ich grüßte zurück. Ich fühlte mich gut aufgehoben.

Aber 50 ist noch viel schlimmer als 40. Nicht wegen des Alters, das fühlt sich heute nicht anders an als damals. Zum 50. muss man noch viel weiter flüchten, da reicht Oberbayern nicht mehr aus. Da drohen, zumindest in dem Dorf, in dem ich lebe, nicht nur die Verwandtschaft und der Freundeskreis. Auch der Bürgermeister und der Kreissparkassendirektor klingeln an der Türe.

Das Furchtbarste am Fünfzigwerden ist, dass viele zur gleichen Zeit fünfzig werden. Man sollte sich seinen Freundeskreis sorgfältig nach dem Geburtsjahr auswählen und möglichst gleichaltrige Bekanntschaften vermeiden. Es ist eine Katastrophe. In meinem Kalender steht in jedem Monat dieses Jahres mindestens einmal der Eintrag: "50. Geburtstag". Tilman und Heiner und Alberecht und

Geburtstag feiern heißt, sich selbst zu feiern. Mir ist die Sekte der Amish People in den USA schon deswegen so sympathisch, weil es deren Mitgliedern bei Strafe verboten ist, Menschen zum Geburtstag einzuladen. Sich selbst hochleben zu lassen sei eitel und würde daher vom lieben Gott sehr kritisch gesehen. Das leuchtet mir ein.

Zudem: Man zwingt Freunde und Verwandte, von teilweise weit her anzureisen, nur um dann ein paar Stunden herumzusitzen und wieder enttäuscht nach Hause zu fahren. Denn wirklich reden kann man an diesem Tag mit niemandem. Schlimmer noch: man nötigt seine besten Freunde, Ausreden zu erfinden, warum sie nicht kommen können. Das ist doch nicht in Ordnung. Das tut der Freundschaft doch nicht gut. Dann lieber durch Oberbayern wandern und Kühe zählen.

Ich schreibe das alles eigentlich nur, weil ich nach einer Erklärung suche, warum der Klavierlehrer meines Sohnes von einem Tag auf den anderen von der Bildfläche verschwand. Am Tag vor der wöchentlichen Klavierstunde rief vor sechs Wochen eine fremde Frau bei uns an und sagte, Herr A. sei diese Woche und auch vermutlich die kommenden Wochen nicht erreichbar und werde sich dann wieder melden. Wir warteten vergeblich. Er verschwand lautlos und tauchte nicht wieder auf. Niemand konnte uns sagen, was mit ihm geschah. Ober er krank ist, verhaftet wurde oder die Bundesrepublik aus irgendeinem Grund überstürzt verlassen musste. Seine Telefone sind abgestellt und an seiner Haustüre öffnet niemand. Der Klavierlehrer A. sah aus, als wäre er um die 50.

Ich glaube: Herr A. ist 50 geworden. Er hat sich auf die Samoa-Inseln zurückgezogen und kommt nie wieder. Er floh vor diesem Datum und nun sitzt er in der Südsee und bringt den Inselbewohnern auf einem Bambus-Xylophon die C-Dur-Tonleiter bei. Er ist glücklich und zufrieden, weil ihn niemand an diesen schrecklichen Geburtstag erinnert.

Gestern haben wir unseren Sohn bei einem neuen Musiklehrer angemeldet. Er ist schon über 50 Jahre alt. Das war die einzige Bedingung, die wir stellten.

Fragen zum Feiern? kolumne@taz.de Montag: Peter Unfried hört die CHARTS

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.