Kolumne Speckgürtel: "Wartet nicht auf mich!"

Das Kind schreibt Abitur. Und geht lieber aus, als fleißig zu büffeln. Zeit, das Coole-Eltern-Programm abzuspulen.

Mann, ist das aufregend! Dreizehn Jahre sind um, jetzt kann das Kind mal zeigen, was es gelernt hat. Angst muss sie nicht haben vor den Abitur-Prüfungen, die Kurse hat sie nicht nur rumgebracht, sondern dort tatsächlich Erstaunliches gelernt.

Gern hat sie ihrem Vater und mir ihre Sicht der Dinge vermittelt, wenn wir uns mit ihrer jüngeren Schwester stritten ("Ihr müsst ihr das Gefühl geben, sie könnte irgend etwas mitbestimmen. So haben wir das in Pädagogik gelernt.") Umfassend hat sie uns darüber informiert, welchen Einfluss Benjamin von Stuckrad-Barre auf die Binnenperspektive der jungen Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts hatte (Deutsch-Leistungskurs). Eine anständige Einkaufsabrechnung kriegt sie nach 13 Jahren Mathe immer noch nicht hin, aber Algebra beherrscht sie. Nun ist der spannende Moment da: Das Kind schreibt Abitur.

Aber statt sich mit anderen 19-Jährigen zu treffen und zu lernen, statt sich in unserer kleinstädtischen Bibliothek und im Internet den letzten Schliff für die Prüfungen zu holen, liegt sie apathisch auf ihrem Bett. Bequem hat sie es sich gemacht, Schokoladenpapier auf dem Laken verstreut, ab und zu wirft sie einen Blick in einen Hefter, immer wieder schläft sie ein. Gefragt, ob es ihr womöglich nicht gut gehe, ob sie sich vor den Prüfungen fürchte, winkt sie übellaunig ab.

Erst gegen Abend erwachen ihre Lebensgeister wieder. Dann halten kleine, einem Fahrzeugbegegnungsfall nicht gewachsen wirkende Autos mit Vorstadtkennzeichen vor dem Haus, auf den Sitzen drängen sich ihre Freunde. Der unmittelbar vor der Hochschulreife stehende suburbane Nachwuchs ist bereit zum Aufbruch in die hauptstädtischen Ausgehbezirke.

Frisch duftend tritt die Abiturientin in spe aus dem Badezimmer, die Jogginghose hat sie gegen Jeans getauscht, ihre Augen sind kräftig geschminkt, ihr Mund öffnet sich und sagt: "Wartet nicht auf mich!" Womit, sagt sie nicht, nähere Auskunft zu geben ist sie seit Erreichen der Volljährigkeit nicht mehr verpflichtet. Dann ist sie weg. Tanzen.

Es sind Momente wie diese, die Eltern das Gefühl geben, die letzten Trottel zu sein. Ich stehe hinter der zugeschlagenen Haustür und denke über Dankbarkeit und Benimmse im Zusammenhang mit einem frisch zubereiteten Abendessen nach. Dann werfe ich mein Coole-Mutter-bleiben-Programm an: Ich erinnere mich an meinen eigenen Vater, der vor über zwanzig Jahren in einer anderen Vorort-Haustür stand und sagte: "Wo willst du denn jetzt hin? Ich hab doch grad das Abendbrot fertig." Gerade so habe ich mir diese Bemerkung heute verkneifen können.

Gerade so!

Die Zeiten haben sich halt geändert. Als wir vor Jahren frisch in den Speckgürtel gezogen waren, habe ich sie entdeckt: Junge, sehr junge Mädchen, in der rechten Hand die Zigarette, in der Linken den Kinderwagengriff und die Hundeleine mit dem Pitbull dran. In Dreier- und Vierergrüppchen kreuzten sie durch die kleinstädtische Fußgängerzone, manchmal hatten sie minderjährige Jungs dabei, rasierte Schädel, schiefe Zähne, Bomberjacke, an ungeraden Tagen hielten die die Hundeleine. Wenn uns solch ein Geschwader des Schreckens begegnete, sagte ich zu meiner Tochter: "Immer schön in der Schule aufpassen!" Ich hielt das für humorvolle Erziehung.

Nun, sie hat sich drangehalten. Hat gut zugehört und mitgearbeitet. Ist jeden grauen Morgen aufgestanden und mit dem Fahrrad weite Wege durchs Umland gefahren, um alles unter einen Hut zu kriegen: Schule, Sportverein, Musikschule, Fahrschule, Praktika, Freundschaften, Feindschaften. Hat die Glatzen gemieden und im Deutsch-LK "Soloalbum" analysiert.

Alles, wie wir es uns gewünscht haben. Alles, damit sie uns bald verlassen kann. Dass sie auf den letzten Metern scheiße drauf ist - was solls. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass sie in über zwanzig Jahren eines Frühlingsabends in einer Tür steht und über Dankbarkeit und Benimmse im Zusammenhang mit einem frisch zubereiteten Abendessen nachdenkt.

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