Rumänische Arbeitsverträge für Hartz-IV-Empfänger: Auf Hungerlohn-Kreuzfahrt
850 Euro für 70 Wochenstunden: Die Bundesagentur für Arbeit soll Arbeitslose genötigt haben, rumänische Arbeitsverträge zu unterschreiben. Einer der Betroffenen erstattet nun Anzeige.
Es klang einfach zu schön, um wahr sein zu können. "Ein Qualifizierungsprojekt mit Jobgarantie" - wann unterbreitet die Arbeitsagentur einem Hartz-IV-Empfänger schon solch ein verlockendes Angebot? Doch auf die Absolventen des Gastronomievorbereitungskurses "Crewing für Kreuzfahrtschiffe" wartete kein Traumjob, sondern ein Albtraum. Jetzt hat einer von ihnen Anzeige erstattet.
Laut den Angaben des 19-jährigen Remscheiders wurden Arbeitslose von einem Mitarbeiter der Arbeitsagentur Remscheid genötigt, einen Vertrag bei einer rumänischen Reederei zu unterschreiben. Geboten worden sei ein Monatsverdienst von 850 Euro netto - bei einer 70-Stunden-Woche mit sieben Arbeitstagen. Der Mann hatte zuvor im Rahmen des "Crewing"-Projekts eine von der Arge bezahlte Fortbildung als Koch gemacht. Als er den Folgevertrag nicht unterschreiben wollte, habe der Agenturmitarbeiter gedroht, er müsse sonst den Wert des Bildungsgutscheins zurückzahlen. "Unter diesem Druck soll er dann den Vertrag unterschrieben haben", bestätigte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Wuppertal.
Wie das ZDF-Magazin "Frontal 21" berichtet, sollen mehrere Dutzend junge Arbeitslose von mindesten sechs Jobcentern in Nordrhein-Westfalen auf solch fragwürdige Arbeitsplätze vermittelt worden sein.
Initiiert wurde das jetzt ins Zwielicht geratene "Crewing"-Projekt 2006 von der Stadt Hamm; finanziert wird es mit mehreren hunderttausend Euro von der Regionalagentur Westfälisches Ruhrgebiet und dem Europäischen Sozialfonds mit Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen. Träger ist der Personalvermittler Mirko Partner aus Neumünster. Er soll auch die Anschlussverträge mit der rumänischen Reederei angeboten haben. Von "sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen" auf Flusskreuzfahrtschiffen spricht die Gewerkschaft Ver.di.
Die "etwas ungewöhnlichen Arbeitsbedingungen" seien offenkundig "nach deutschen Maßstäben sittenwidrig", räumt der Sprecher der BA-Regionaldirektion NRW, Werner Marquis, ein. So kam die Remscheider Arbeitsagentur nach Prüfung zweier solcher Verträge zu dem Schluss, dass sie gleich mehrere "hochproblematische Regelungen" enthielten. Demnach muss der Arbeitnehmer 300 Euro Kaution hinterlegen. Außerdem werden 297,50 Euro als Fixpauschale für bis zu 30 Überstunden in der Woche festgeschrieben. Die Stadt Hamm befürchtet, dass in mindestens vier weiteren Fällen Verträge nicht den Standards in der EU entsprachen.
Es handele sich hier um nicht hinnehmbare Auswüchse, betonte Marquis. Seine Behörde prüfe jetzt, ob es sich um einen einzelnen oder einen systemimmanenten Fehler handele. Bisher seien die Erfahrungen mit dem Projekt sehr gut gewesen. Kein Hartz-IV-Bezieher könne gezwungen werden, einen Job im Ausland anzunehmen. "Die Vermittlung ist immer freiwillig." Es seien daher auch "in keinem Fall Sanktionen erfolgt", weil Arbeitslose Verträge auf Kreuzfahrtschiffen abgelehnt hätten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“
Öl-Konzern muss CO₂-Ausstoß nicht senken
Shell hat recht
Übergriffe durch Hertha-BSC-Fans im Zug
Fan fatal