Kurzsichtige Erfindungen im Hinterhof

Die Kultivierung des Ereignislosen: Eigentlich wollte Hinark Husen Kabarett schreiben, doch dann kam er nicht los vom Wedding. In seinem Buch „Wenn Weddinger weinen“ verfolgt ihn der Alltag dort, selbst noch mit 200 km/h im ICE

Im Wedding wähnt man sich mitunter noch immer im Schatten der Mauer. Dass Regierungsbezirk und Prenzlauer Berg gleich um die Ecke sind, ist noch nicht in das Bewusstsein seiner Bewohner gedrungen. So sagt zumindest das Klischee. Oder ist doch etwas Wahres dran? Bei den Geschichten in Hinark Husens Buch „Wenn Weddinger weinen“ kann man diesen Eindruck durchaus gewinnen. Bei ihm erscheint der Wedding als Mikrokosmos, in dem das Skurrile um die Ecke, in der Stammkneipe, an der Laterne oder zu Hause geschieht. Klischee hin oder her, witzig sind seine Anekdoten, ob wahr oder einfach nur gut erfunden, allemal.

Alltägliche Begebenheiten am Rande des Wahrnehmbaren, die zu fantastischen, manchmal bösen Reflexionen werden: Davon gibt es mehr als genug in den lose zusammengestellten Geschichten. Eigentlich wollte Husen klassisches politisches Kabarett machen. Im Nachwort von „Wenn Weddinger weinen“ schreibt er aber, dass er stattdessen begann, „nur“ über seinen Alltag zu berichten. Diesem „nur“ allerdings verdanken viele seiner Anekdoten ihre Originalität.

Denn der Wedding lässt Husen weder im ICE Walter Gropius noch beim Besuch des früheren Heimatdorfs in Westfalen los: In dem grauen Kiez hat er sich den „liberalen Biorhythmus“ mit langen Nächten, spätem Frühstück und einem scharfen Blick aufs Alltägliche angewöhnt. Gleich in der ersten Geschichte wird deutlich, was dem Erzähler am Wedding liegt: Auch wenn er sich ab und an „ein paar tausend zusätzliche Lux in heimischen westfälischen Gefilden“ verabreicht, zieht es ihn doch immer wieder zurück in seinen Kiez – in den grauen Hinterhof, zum Frühstück im Dunkeln, der schummrigen Stammkneipe und seiner sorgfältig kultivierten Beobachtung des scheinbar Ereignislosen.

Das war jedoch nicht immer so, wie wir erfahren: Es dauerte Jahre, bis Husens Befremdung in diesem „Parallel-Westberlin“ einem Gefühl der Vertrautheit wich. Nachdem er als Neuankömmling sonnige Herbsttage in einer 120 Quadratmeter großen Wohnung in Schöneberg verbrachte, sei der Umzug in die unmöblierte Wohnung im novembergrauen Wedding „ein Kulturschock“ gewesen. Was Husen im Wedding hält, erfährt man einige Sätze weiter, als er erklärt, dass man auch weit entfernt von der „Kreuzberger Anarchie“ der 80er-Jahre und dem Schöneberger Dandytum revolutionär und schwul sein durfte, „es interessierte nur keinen“.

Der Wedding ist ein hartes Pflaster und im Winter noch mehr: Eindrücklich schildert der Autor in einer anderen Geschichte, wie er versucht, einer toten Ratte ein Kohlebrikett zu entreißen. Solche Szenen machen lächeln, und immer wieder freut man sich, wie viel Stoff zu skurrilen Gedankenexpeditionen in einer einfachen Kohlelieferung stecken kann.

In der Geschichte „Koalas im Hinterhof“ taugt selbst die Langeweile zu wilden Fantastereien: Dank der eigenen Kurzsichtigkeit wird beim arbeitslosen „Dahinvegetieren“ das rötliche Ziegeldach im Hinterhof zu einem „monolithischen Ayers Rock“ und die Ulme zum Eukalyptusbaum. Hinark Husen verliert sich an Stellen wie diesen im scheinbar unbedeutenden Detail bis zu dem Punkt, an dem sich seine Beobachtungen in einigen witzig und pointiert formulierten Sätzen verdichten. Von solchen Sternminuten muss man allerdings mitunter seitenweise zehren, um auch durch einige pointenlose Texte in dem Band zu kommen – über einen misslungenen Abend im Whirlpool eines Freundes oder das Verhältnis zur lärmempfindlichen Nachbarin.

Schon in Husens erster Geschichte wird deutlich, dass da einer erzählt, der sich ganz und gar über seine Umgebung definiert. Auch wenn seine Beobachtungen privater und alltäglicher Natur sind, so ist in ihnen der Kiez und mit ihm seine Bewohner fast immer präsent. Auch dann, wenn die scheinbare Ereignislosigkeit des Hinterhofs zu gesteigerter Wahrnehmung und zu wunderbar absurden Überlegungen führen.

KONSTANTIN RIFFLER

Hinark Husen: „Wenn Weddinger weinen“. Blue Cat Print & Music Verlag 2005, 200 Seiten, 12,90 €