piwik no script img

Mit einem Bein in Deutschland

Die Schweiz besiegt die Türkei im ersten WM-Ausscheidungsspiel mit 2:0. Selbst am Bosporus glaubt nun keiner mehr an eine WM-Teilnahme

BERN taz ■ Um das vorweg gleich klarzustellen: Philippe Senderos sieht nicht aus wie einer jener Leibwächter der türkischen Fußballnationalmannschaft, die ein Reporter der Neuen Zürcher dieser Tage beispielhaft als einen Haudrauf mit rechteckigem Kopf, der so „verbeult ist wie ein Lastwagen auf den Straßen Istanbuls“, beschrieben hatte. Erstens fahren auf den Straßen von Genf, wo Senderos vor etwas mehr als 20 Jahren geboren wurde, und auch auf denen in London, wo der Innenverteidiger der Schweizer Nationalmannschaft lebt, vermutlich viel weniger verbeulte Lkws als in der Metropole am Bosporus. Zweitens bleibt festzustellen, dass Senderos’ Kopf eher eiförmig und nicht ramponiert ist. Dennoch nähert man sich dem Abwehrhünen mit gewaltigem Respekt, weshalb sich ein Vergleich mit den türkischen Sicherheitsleuten durchaus anbietet. Der drahtige Senderos ist einsneunzig groß und schaut meist Furcht einflößend drein. Kurzum: Den Verteidiger von Arsenal London umgibt die Aura eines skrupellosen Türstehers vor der Edeldisco.

So war es auch am Samstagabend, als nach dem 2:0-Sieg der Schweiz gegen die Türkei im ersten Ausscheidungsspiel zur WM 2006 die ganze Schweiz in einen so mächtigen Siegestaumel fiel, dass manche darin die Ursache des kleinen Erdbebens sahen, das kurz darauf die Nordwestschweiz ins Vibrieren brachte. „Wir sind mit einem Bein in Deutschland“, schrieb das Boulevardblatt Blick gestern euphorisch. Nur Senderos, der in der 41. Minute das 1:0 geköpft hatte, stand nach dem Triumph in den Katakomben des „Stade de Suisse“ und verzog keine Miene. „Man weiß nie“, sagte er nur kurz, und fügte hinzu: „Fußball ist nicht mathematisch.“

Am Mittwoch steht das Rückspiel in der Türkei an – und selbst am Bosporus mag derzeit niemand so recht glauben, dass die Türken das noch drehen können, auch wenn dann die in Bern gesperrten Emre Belezouglu und Hamit Altintop sowie vielleicht sogar der angeschlagene Yildiray Bastürk wieder dabei sein werden. „Die Türkei braucht ein Wunder“, findet auch die Zeitung Milliyet.

Um dieses zu bewerkstelligen, zog der 52 Jahre alte Trainerfuchs Fatih Terim nur Minuten nach der Niederlage bereits alle Register zum Aufbau von vermeintlich den Gegner schwächenden Verschwörungstheorien. Der Mann, den sie wegen seiner früheren Erfolge „Imparator“ (Kaiser) nennen, verweigerte die Pressekonferenz, nachdem ihn eine Ordnerin gebeten hatte, vor der Tür zu warten bis Jakob Kuhn, Terims Kollege, den Presseraum verlassen habe. Terim zog fluchend davon, nur um sich kurz darauf im Kabinentrakt ein Wortgefecht mit dem Schweizer Stürmer Alexander Frei zu liefern. In der Türkei herrscht der Irrglaube vor, durch ein Hochspielen vermeintlicher Provokationen der eigenen Mannschaft und den Fans zu noch größerer Motivation verhelfen zu können. Dennoch: „Der Druck ist nun riesig“, schrieb Hürriyet nach dem Entsetzen stiftenden, emotionslosen Auftritt der Türken.

Terims kaltes 4-2-3-1-System jedenfalls setzte der Leidenschaft der Schweizer nichts Ebenbürtiges entgegen. „Na, was soll ich sagen? Bin ich glücklich oder doch ein bisschen enttäuscht, weil wir nur zwei Tore geschossen haben?“, fragte der 62-Jährige Jakob, genannt Köbi, Kuhn entspannt – und bescheinigte seiner Mannschaft eine „großartige Leistung“. Selbst die Gelbsperre des starken Ludovic Magnin vom VfB Stuttgart war für Kuhn kein Grund, um Trübsal zu blasen. „Wir sind inzwischen in der Lage, jeden zu ersetzen“, sagte er voller Selbstbewusstsein – und nicht ohne Grund: Seit 14 Spielen sind die Eidgenossen nun schon ohne Niederlage. Und durch das 2:0 (86.) des drei Minuten zuvor eingewechselten Valon Behrami haben sie nun auch eine „gute Ausgangslage“ (Kuhn), um sich zum ersten Mal seit 1994 wieder für eine WM zu qualifizieren.

TOBIAS SCHÄCHTER

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen