Wasser fließt schneller ab: Entspannung an Chinas Erdbeben-See
In Sichuan drohen Nachbeben das aufgestaute Gewässer freizusetzen. Soldaten schaffen mit Sprengungen Abflüsse. Die Chance auf ein glimpfliches Ende wächst.
Lü Lei hat eine Aufgabe, und sie nimmt sie sehr ernst: "Ich bin freiwillige Ordnerin", sagt die Schülerin, "ich und meine Gruppe, wir achten darauf, dass sich die Leute hier ordentlich benehmen." Mir durchgedrücktem Rücken und wichtiger Miene streift sie mit ihren Freundinnen durch die Zeltreihen auf dem Sportplatz der "Musikhochschule Sichuan" auf dem Hügel über der Stadt Mianyang.
"Freiwillige Nr. 001" steht auf ihrem Ausweis. Die Sonne erhitzt die Plastikdächer. Drinnen wedeln sich die Bewohner mit kleinen Fächern Kühlung zu und schauen dem Mädchen mit der grellrosafarbenen Bluse und den schwarzen kurzen Hosen gelangweilt hinterher. Lü Lei ist elf und schon eine Anti-Flut-Aktivistin.
Vor zehn Tagen ist ihre Familie aus dem Viertel Tangxun hier herauf evakuiert worden. Denn die Armee versucht, eine zweite Katastrophe zu verhindern: Der Damm des aus Erdrutschen angestauten Tangjiashan-Sees, der nach dem große Beben vom 12. Mai entstanden ist, droht zu bersten. Eine riesige Flutwelle könnte sich in die Ebene der Industriestadt Mianyang ergießen, die bisher weitgehend verschont geblieben ist. Mehr als 250.000 Mann hat die Armee auf die Hügel der Umgebung geschickt.
Ununterbrochen tönen Nachrichten aus einem Lautsprecher über den Sportplatz: "Der Damm hält noch, aber der See schwillt an, wir müssen alle Geduld haben!" Die Gefahr: Kräftige Nachbeben könnten die Fluten freisetzen. Soldaten haben zwar inzwischen einen Stichkanal gegraben, um den Druck auf den Damm zu vermindern, doch so recht funktionierte der Plan zunächst nicht. So schossen sie mit schwerem Geschütz auf Geröll und Baumstämme im Tangjiashan-See, um zu verhindern, dass der Graben wieder verstopfte. Am Dienstag beginnt das Wasser endlich schneller abzufließen, die Chance auf ein glimpfliches Ende wächst.
Über 10.000 Menschen leben in dem Camp auf dem Sportgelände der Musikschule. Alles wirkt perfekt organisiert, als sei das Lager von langer Hand geplant worden. In grünen Militärzelten haben 600 Kinder wieder Unterricht. Jugendliche tragen mit Vorliebe patriotische T-Shirts mit dem Spruch "Ich liebe China". Ein Stück weiter stehen schnurgerade ausgerichtet dicht an dicht die blauen Zelte der Familien, jedes mit einer Nummer versehen.
Knapp zwei Autostunden weiter, in der Stadt Dujiangyan, sitzt der Arzt Thomas Moch vor der Zeltklinik des Deutschen Roten Kreuzes. Er schaut entspannt auf die chinesischen Mediziner, Pfleger und Patienten, die das mobile Hospital so selbstverständlich nutzen, als habe es schon immer auf der abgesperrten Betonstraße gestanden. "6.000 Patienten haben wir in den letzten zwei Wochen schon behandelt", sagt Moch. Gerade wurde das vierte Baby geboren. Das erste nannten die Eltern aus Dankbarkeit für die deutsche Hilfe "Zhongde" - "China und Deutschland". Die Zusammenarbeit klappt so gut, dass die Klinik schon an diesem Wochenende, wenn Außenminister Franz-Walter Steinmeier ins Erdbebengebiet reist, offiziell ans Chinesische Rote Kreuz übergeben werden kann.
Fünf Millionen Menschen sind obdachlos geworden, schätzen die Behörden. Sie sollen bis auf weiteres gratis medizinisch behandelt werden und in den ersten drei Monaten Essensrationen und Taschengeld erhalten. Ob die Hilfe auch jene erreicht, die noch an abgelegenen Orten ausharren, ist nicht klar. Ein weiteres Versprechen: Wer sein zerstörtes Haus noch nicht abbezahlt hat, muss den Kredit dafür nicht zurückzahlen. Jede obdachlose Familie soll von der Regierung eine 70 Quadratmeter große Wohnung erhalten, heißt es in den chinesischen Zeitungen.
Gleichwohl gibt es Ärger. In Dujiangyan und in anderen Orten protestierten in den letzten Tagen erzürnte Eltern, weil so viele Schulen beim Beben zusammenstürzten. Womöglich sind über 13.000 Kinder ums Leben gekommen, rechneten chinesische Medien. Die Eltern werfen örtlichen Funktionären Korruption und Pfusch am Bau vor. Nun wollen sie sich zusammenschließen und vor Gericht ziehen.
Die Behörden fürchten, dass auch Eltern aus anderen Orten sich anschließen, und sie versuchen zu verhindern, dass diePresse über die Unruhen berichtet. So scheitert der Versuch, das stark zerstörte Dorf Xiange zu besuchen, in dessen Schule über 400 Kinder gestorben sind. Die Offenheit, mit der Funktionäre in den Tagen der Rettungsarbeiten Berichterstatter empfingen, ist plötzlich wieder vergessen. "Zugang verboten", heißt es. Eine Polizeieskorte stellt sicher, dass ich wirklich den Ort verlasse.
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