Türken demoralisieren die Tschechen: "Die Schönheit dieses Spiels"
Mit drei Toren in der letzten Viertelstunde drehen die Türken noch ein 0:2 im kleinen Endspiel ums Viertelfinale. Eine Partie fürs Geschichtsbuch, ein trauriger Abschied für Karel Brückner.
GENF taz Als Letzter verließ Volkan Demirel den Platz. Als der türkische Torhüter aus der Fankurve Richtung Spielereingang schritt und seinen entblößten, muskulösen Brustkasten demonstrativ durchdrückte, mutete er an wie ein byzantinischer Feldherr nach einer siegreichen Schlacht. Eigentlich hätte Volkan geknickt sein müssen, denn er hatte kurz vor dem Abpfiff die rote Karte gesehen und wird das Viertelfinale verpassen.
Doch dieser Vorfall war nicht mehr als eine Marginalie in einer Partie, die als eines der spektakulärsten Comebacks in die europäische Fußballgeschichte eingehen wird. Wenige Minuten vorher hatte Volkans Pendant Petr Cech völlig frustriert seinen Kopfschutz heruntergerissen und ihn weggetreten.
Seit er eine schwere Kopfverletzung überwunden hat, trägt Tschechiens Ausnahmekeeper das schwarze Requisit als Glücksbringer, doch es ist gut vorstellbar, dass der Talisman nach dieser Nacht ausgedient hat. Den Tschechen dürfte es schwer fallen, an das Gute im Fußball zu glauben, nachdem sie einen sicheren 2:0-Vorsprung durch Jan Koller und Jaroslav Plasil in den letzten 15 Minuten einer aufregenden Partie leichtfertig verschenkt und damit den Viertelfinal-Einzug verpasst haben.
Arda Turan und zweimal Nihat Kaveci drehten das Spiel und schufen damit ein Kunstwerk, das in der türkischen Geschichtsbüchern als Wunder von Genf einen ehrenvollen Platz einnehmen wird. Zumal die letzten beiden Tore erst in der 87. und 90. Minute fielen.
Anderthalb Stunden nach dem wunderbaren Geschehen schüttelten die Tschechen in der Mixed-Zone noch immer den Kopf und haderten mit ihrem Schicksal. „Unfassbar“, murmelte David Jarolim vom HSV, „das darf solch einer Mannschaft einfach nicht passieren“, ergänzte Kapitän Tomas Ujfalusi.
Und Cech, der die unglaubliche Wende durch einen kapitalen Patzer vor dem 2:2 begünstigt hatte, sagte, dieses Spiel passe zu seiner Saison, in der er mit Chelsea alle wichtigen Spiele wie das Champions-League-Finale und die Meisterschafts-Entscheidung verloren habe.
Auf der anderen Seite standen die Türken, die ihr Glück kaum fassen konnten. 75 Minuten war ihnen kaum etwas gelungen, dann schafften sie eine Wende, von der die Fans in der Heimat noch lange schwärmen werden.
Vergleichbares ist selten zu finden. Die Bayern erinnern sich mit großer Pein an das historische Champions-League Finale 1999 in Barcelona, als ihnen Manchester United mit zwei Treffern in der Nachspielzeit den Pokal entriss. Die Tschechen feierten vor vier Jahren bei der EM in Portugal eine unglaubliche Auferstehung, als sie gegen Holland in einem atemberaubenden Spiel ein 0:2 in ein 3:2 verwandelten. Nun mussten sie schmerzvoll erfahren, dass es auch umgekehrt laufen kann.
Hernach rangen sie alle nach Fassung und versuchten, das Unerklärliche zu erklären. Trainer Karel Brückner sprach von einem „Kollaps“. Wie konnte die bis dato so stabile Viererkette mit Profis, die ihr Geld allesamt in der italienischen Serie A verdienen, dermaßen ins Straucheln geraten? Das Unglück brach über die linke Seite herein, wo Marek Jankulovski (AC Mailand) den eingewechselten Sabri Sanoglu nicht halten konnte und Plasil einen Fehlpass an den nächsten reihte.
Dass seine mit Routiniers gespickte Mannschaft kollektiv versagte, trifft Brückner hart. „Ich werde viele Nächte nicht schlafen können“, sagte der 68-Jährige, der in Genf einen Ausstand als Nationaltrainer erlebte, der bitterer nicht sein konnte. Kein guter Start in den Ruhestand eines Mannes, dem der tschechische Fußball so viel zu verdanken hat.
Ergebnis: 3:2 (0:1)
Türkei: Volkan - Hamit Altintop, Emre Güngör (63. Emre Asik), Servet, Hakan Balta - Mehmet Topal (57. Kazim), Mehmet Aurélio, Arda, Tuncay - Semih (46. Sabri), Nihat
Tschechien: Cech - Grygera, Ujfalusi, Rozehnal, Jankulovski - Matejovsky (39. Jarolim), Galasek, Polak - Sionko (84. Vlcek), Plasil (80. Kadlec) - Koller
Schiedsrichter: Fröjdfeldt (Schweden)
Zuschauer: 29.016 (ausverkauft)
Tore: 0:1 Koller (34.), 0:2 Plasil (62.), 1:2 Arda (75.), 2:2 Nihat (87.), 3:2 Nihat (90.)
Gelbe Karten: Arda, Mehmet Aurélio, Emre Asik, Mehmet Topal / Baros, Ujfalusi, Galasek
Rote Karten: Volkan (90.+2/Tätlichkeit ) / -
Beste Spieler: Arda, Tuncay / Koller
Der letzte Vorhang war eine epochale Inszenierung mit einem Showdown, den sich Brückner und mit ihm die gesamte Nation völlig anders vorgestellt hatten. Der Triumph hatte an diesem Abend die Form eines türkischen Halbmonds und das Gesicht von Fatih Terim. Als der Trainer den Saal der Pressekonferenz betrat, brandete Beifall auf, Terims journalistisch tätigen Landsleute hatten jegliche Distanz über Bord geworfen. „Ich bin dankbar, Spieler zu haben, die nie aufgeben“, verkündete der „Imperatör“ mit staatsmännischer Miene: „Sie hören erst auf, wenn der Schiedsrichter abgepfiffen hat.“
Tatsächlich haben die Türken eine Mannschaft mit begnadeter Moral. Zwei Mal ist bei dieser EM bislang ein Spiel gedreht worden, in beiden Fällen waren es die Männer in rot, die das Kunststück vollbrachten. Gegen die Schweiz erzielten sie das entscheidende Tor in der Nachspielzeit, nun schafften sie es, innerhalb von einer viertel Stunde drei Stiche ins tschechische Herz zu setzen.
Sind Türkeis Helden eine Ansammlung kleiner Titanen, die das Kahnsche Credo vom „Weiter-immer-weiter“ inhaliert haben wie gute Bergluft? Hamit Altintop, der mit Kahn beim FC Bayern zusammengespielt hat, glaubt daran: „Wir haben nicht überragend gespielt, aber immer an uns geglaubt.“ Es ist ein Glaube, der jetzt schon viel bewirkt hat. Wer nicht dem tschechischen Lager zuzurechnen war, durfte sich glücklich schätzen, einem unvergesslichen Spektakel beigewohnt zu haben. Fatih Terim hat das Stade de Genève mit einem seligen Lächeln verlassen: „Das ist die Schönheit dieses Spiels, das Fußball heißt.“
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