Debatte über Patientenverfügung: Sterben statt dahinvegetieren

Eine Patientenverfügung soll die Selbstbestimmung in medizinischen Behandlungsfragen regeln. Der Bundestag befasst sich nun mit einem Gesetzentwurf, der dies rechtlich absichern soll.

Wer entscheidet über Menschen, die ihren Willen nicht mehr äußern können? Ärzte, Angehörige oder sie selbst? Bild: dpa

Der Saal ist dunkel und stickig, man spricht über das Sterben. Im Bürgertreff der SPD in Berlin-Lichterfelde sitzen rund 70 ältere Menschen gedrängt an Holztischen und blicken auf die Leinwand. Der Vortrag der Gesellschaft für Humanes Sterben lautet: "Leben in Würde - bis zuletzt". Jürgen Heise referiert, wie man eine Patientenverfügung verfasst. In diesem Dokument kann man festlegen, welche lebensverlängernden Maßnahmen man im Vorfeld ausschließen will, falls man sich später nicht mehr mitteilen kann (siehe Kasten). Im Saal herrscht Stille, einige sind nachdenklich geworden, andere notieren eifrig die Fakten. Ein weißhaariger Mann im Publikum hebt die Hand: "Aber was nutzt mir die Patientenverfügung, wenn sie der Arzt vielleicht nicht einhält?" Er benennt das Kernproblem.

Rund 8,6 Millionen Menschen haben laut einer Umfrage der Deutschen Hospiz Stiftung eine Patientenverfügung unterschrieben. Doch ein Gesetz zur verpflichtenden Einhaltung gibt es nicht. Am Donnerstag wird deswegen ein Gesetzentwurf im Parlament behandelt. Eine Gruppe um den rechtspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Joachim Stünker, will festlegen, dass die schriftlichen Wünsche der Patienten für Krankenhaus- und Pflegepersonal künftig in jedem Fall verpflichtend sein sollen. Nur, wenn die Verfügung nicht klar interpretierbar sei, soll ein Vormundschaftsgericht eingeschaltet werden. "Es geht hier um das Selbstbestimmungsrecht, das in der Verfassung verankert ist. Die Menschen wollen mit der Patientenverfügung ausschließen, dass ein Arzt über ihr Leben bestimmt", sagt Stünker. Er wird dabei von einer fraktionsübergreifenden Gruppe von 208 Bundestagsabgeordneten unterstützt, die den Entwurf unterschrieben haben. In den letzten Tagen wurden immer wieder Unterschriften in seinem Büro nachgereicht.

Derzeit gibt es zwei Urteile des Bundesgerichtshofs, von 2003 und 2005. Beide besagen, dass Patientenverfügungen gegen lebenserhaltende Maßnahmen grundsätzlich zu beachten sind, wenn der Patient nicht fähig ist, seinen Willen zu äußern. Wenn sich Arzt und der Bevollmächtigte, den der Patient in seiner Verfügung benannt hat, einig sind, werden alle Behandlungsversuche eingestellt. Wenn sie das Dokument verschieden interpretieren, wird das Vormundschaftsgericht angerufen - und kann im Zweifelsfall gegen die schriftliche Verfügung entscheiden. Ein weiterer strittiger Punkt ist die Frage der sogenannten Reichweitenbegrenzung: Das BGH-Urteil von 2003 wird oft dahingehend interpretiert, dass eine lebenserhaltende Behandlung nur dann beendet werden darf, wenn ein tödlicher Verlauf der Krankheit feststeht. Könnte man also theoretisch noch länger weiterleben - auch wenn man das als "dahinvegetieren" empfinden könnte -, würde die Patientenverfügung nach derzeitigem Recht ignoriert.

Rechtssicherheit durch ein Gesetz ist überfällig, denn täglich entscheiden sich immer mehr Menschen für eine Patientenverfügung. "Der Trend ist auf jeden Fall erkennbar", sagt Jürgen Heise von der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS). Fast alle der 30.000 DGHS-Mitglieder - die meisten über 60 Jahre - haben eine Verfügung unterschrieben und in der Zentrale des Interessensverbandes hinterlegt. Laut einer Forsa-Umfrage, die die DGHS in Auftrag gab, würden zwei Drittel der Deutschen zugunsten der Patientenverfügung sogar das Risiko in Kauf nehmen, auf Restchancen einer Genesung zu verzichten. Die Ludwig-Maximilians-Universität München fand in einer Befragung, dass fast 70 Prozent der Menschen, die eine Patientenverfügung unterschrieben haben, eine strikte Einhaltung von Ärzten und Angehörigen fordern. "Es hat Jahre gedauert, bis ich mich dazu durchgerungen habe", sagt Toni Hartmann-Berge, die sich einige Tage zuvor beim Hospizdienst Christophorus in Berlin über eine Patientenverfügung beraten ließ. Die 62-Jährige hat sich deswegen mit einer Freundin gemeinsam angemeldet. Zwei Stunden lang haben sie mit einer Hospizmitarbeiterin die einzelnen Punkte der Patientenverfügung durchgesprochen. "Ich war nach der Beratung völlig k.o.", sagt Toni Hartmann-Berge. Ihre Freundin, Andrea Loebell-Buch (65), nickt. Sie war bis vor wenigen Jahren Kinderärztin, Toni Hartmann-Berge war Bewährungshelferin für Jugendliche. Beide Frauen sind sportlich und gesund. Keine typische Klientel für eine Patientenverfügung, könnte man denken. Doch es sind nicht mehr nur Menschen in Pflegeheimen oder unheilbar Kranke, die sich ein würdevolles Sterben sichern wollen.

Jutta Schnitzer, Vorsitzende des Hospizdienstes Christophorus Berlin, bei der sich die beiden Freundinnen informiert haben, berät jährlich rund 100 Krebspatienten, die eine Patientenverfügung wünschen. Ein zunehmender Teil sind jedoch gesunde Bürger. Die Gründe für eine Patientenverfügung seien bei fast allen gleich: "Niemand will würdelos vor sich hin siechen. Viele haben auch Angst vor Schmerzen, die nicht gelindert werden können. Und kaum einer will seinen Angehörigen zur Last fallen", erzählt Jutta Schnitzer. Damit jeder genau über seine Beweggründe sprechen und genau auswählen kann, welche Behandlungsmethoden er wünscht, gibt sie keine Formular ohne ein Gespräch aus. Sie weiß zwar, dass es Vordrucke auch im Internet und Schreibwarenläden gibt. Doch eine Beratung sei unbedingt notwendig. "Man sollte sich wirklich ernsthaft mit dem Sterben auseinandersetzen, bevor man so etwas unterschreibt", sagt die Beraterin.

Kritiker bezweifeln, dass die Wünsche bei Unterschreiben der Verfügung auch dem zukünftigen Willen entsprechen. Woher will man wissen, was man als Demenzkranker oder als Komapatient wirklich will? Dies ist nicht nur der Einwand der katholischen und evangelischen Kirchen in Deutschland, die eine kritische Stellungnahme zu dem Stünker-Gesetzentwurf veröffentlicht haben. Auch die Ärzteschaft äußert sich kritisch. Um eines ginge es dabei nicht: Rechtliche Bedenken, etwa Regressforderungen an Ärzte, die sich an Patientenverfügungen hielten und von Angehörigen später verklagt würden, spielten nach Ansicht der Bundesärztekammer keine Rolle. Rechtssicherheit böten die bereits geltenden Rahmenbedingungen. Der Vizepräsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, bezweifelt aber, dass die Entscheidung über komplizierte ärztliche Behandlungen einer Patientenverfügung überlassen werden könne - und ist gegen eine gesetzliche Regelung. Montgomery sagte der taz: "Die Mehrheit der Ärzte ist dagegen, dass die Menschen durch ein Stück Papier in Sicherheit gewiegt werden." Es werde durch die Patientenverfügungen ein Automatismus ausgelöst, der die Diskussion des Arztes mit den Angehörigen über einen Behandlungsabbruch nicht ersetzen könne, so Montgomery. Gerade die Angehörigen könnten sich aufgrund eines Papiers nicht aus der Verantwortung ziehen, den Willen eines Menschen, der sich nicht mehr äußern könne, zu ergründen.

Auch im Bundestag formiert sich Widerstand. "Die Meinung eines gesunden Menschen, der eine Verfügung unterschreibt, ist nicht zwangsläufig die gleiche, wie wenn er später entscheiden müsste", sagt der rechtspolitische Sprecher der SPD, René Röspel. Er und Wolfgang Bosbach (CDU) vertreten eine Gruppe von Abgeordneten, die fordert: Eine Patientenverfügung soll nur dann von Ärzten befolgt werden, wenn seine Krankheit definitiv und unumkehrbar zum Tod führt - in anderen Fällen soll sie nicht rechtswirksam sein. Das entspricht dem Status quo, der durch die Auslegung der BGH-Urteile entstanden ist. "Dadurch würde jemand im Zweifelsfall weiterleben, ohne es zu wollen. Das ist wichtiger, als wenn jemand unfreiwillig stirbt, nur weil er es vorher in einer Patientenverfügung unterschrieben hat und sich nicht mehr äußern kann", so Röspel.

Die beiden Freundinnen Toni Hartmann-Berge und Andrea Loebell-Buch haben über diesen Punkt lange nachgedacht. "Wer kann das schon vorausdenken, was man in vielen Jahren als Demenzkranker vielleicht will", sagt Andrea Loebell-Buch. "Stimmt", sagt Toni Hartmann-Berge, "Ich kann mir heute zum Beispiel nicht vorstellen, mal querschnittsgelähmt im Rollstuhl zu sitzen - aber vielleicht denke ich irgendwann anders darüber." Das klingt fast, als schwanke sie mit ihrer Entscheidung. Doch dann fügt sie hinzu: "Aber das Schlimmste will ich lieber ausschließen, deswegen halte ich meinen jetzigen Willen für wichtiger."

Das Schlimmste - das wäre für beide, die Möglichkeit auf ein würdevolles Sterben zu verlieren. "Ich will kein Objekt der Behandlung sein, nur von Maschinen abhängig", betont Loebell-Buch. Sie erinnert sich an ihre Mutter, die nach einem Schlaganfall im Pflegeheim lebte und ihre Wünsche nicht mehr mitteilen konnte. "Damals musste ich entscheiden: Soll sie wegen einer Lungenentzündung noch mal ins Krankenhaus oder im Pflegeheim in Ruhe gelassen werden", erzählt Loebell-Buch. "Es fiel mir sehr schwer, zu sagen: nein, keine weitere Behandlung." Deswegen will sie ihren eigenen Kindern diese Entscheidung nicht zumuten. "Ich rechne ja nicht damit, dass ich nächste Woche sterbe. Aber ich bin froh, dass es nun geregelt ist."

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