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Das Phänomen AutokorsoLaute Hupe, schöne Frau, große Fahne

Nach dem Abpfiff des Finales werden wieder Autokorsos rollen. Der Soziologe Alfred Fuhr über Jubelkrach und verstopfte Straßen.

Die türkischen Fans - unumstrittene Könige des Autokorsos. Bild: dpa

taz: Herr Fuhr, seit wann feiern Fans mit einem Autokorso?

Alfred Fuhr: Bei uns ist das Phänomen erst seit der WM 2002 stärker präsent. In den 70er-Jahren gab es Autokorsos vor allem in Südeuropa. Ich erinnere mich an Bilder aus Rom, als nach der Fußball-WM 1970 alle um einen Brunnen rumgefahren sind. Diese überschäumende Freude, das geziemte den Deutschen nicht. Mit den Migranten kam das zu uns.

Woher kommt die Tradition des Korsos eigentlich?

Seit der Renaissance ließen die Herrscher nach militärischen Siegen Triumphwagen bauen und am Volk vorbeiführen. Ähnliches kennt man vom Ende des Zweiten Weltkriegs oder als die ersten Astronauten vom Mond zurückkehrten. Nach der Fußball-WM 1954 fuhren die Spieler im offenen Käfer Korso. Immer stand das Volk am Rand und vergötterte die Helden. Jetzt heißt es: "Wir sind der 12. Mann", man feiert sich selbst. Das ist eine Form von Rebellion.

Inwiefern?

Zwar ist der Kern noch militärisch, alle fahren ordentlich hintereinander, ohne Auffahrunfälle. Aber ansonsten geht es nur darum, Regeln zu brechen: aus dem Fenster hängen, auf dem Auto rumhüpfen, über rote Ampeln fahren, auch mal in Fußgängerzonen.

Welche Spielregeln gelten noch?

Klar: Wer hat die schönsten Mädchen, die meisten Mitfahrer, die größte Fahne, die lauteste Musik? Und natürlich die beste Hupe. Cabrio ist ideal, ein Schiebedach tuts auch. Das Ganze ist eine postmoderne Parade-Mischung: das Hupen kennt man von Hochzeiten, den Stau von Demonstrationen.

Das passiert nur nach Fußballspielen. Wieso eigentlich?

Ja, weder während Olympia noch bei der Handball-WM gibts das. Fußballfans geht es stets darum, Präsenz zu zeigen und den Raum einzunehmen. Und das machen sie mit einem solchen Korso. Sie legen den Verkehr lahm. Die Eltern bleiben auf dem Sofa, die Jungen setzen sich ins Auto und fahren los, auf der Suche nach einer Jubelgemeinde.

Woher wissen sie denn, wo sie hinmüssen?

Um alles zum Stillstand zu bringen, muss man auf die Hauptverkehrsstraßen. Und man will ja die normalen Bürger erschrecken - auf der Stadtautobahn sieht einen keiner. Inzwischen fahren sie selbst in Mittelhessen mit vier Autos um den Dorfbrunnen. Sie haben das im Fernsehen gesehen und imitieren das.

Und wann ist Schluss?

Nach einer Stunde ist das ausgelutscht, dann dünnt sich die Autoschlange wieder aus. Die Phase des Korso-Abbröckelns ist unerträglich. Es ist, als sei die ganze Stadt ein Korso.

INTERVIEW: ANNE HAEMING

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