So weit die Füße tragen: Eine Ballade vom Baikalsee
Am tiefsten See der Welt arbeiten Freiwillige an einem ehrgeizigen Projekt: einem Wanderweg, der in 2.000 km Länge rund um das sagenumwobene Gewässer führen soll.
Kurz nach halb neun durchbricht ein vertrautes Knacken die morgendliche Stille. „Endlich, ich habs“, ruft Sweta herüber und streicht sich eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn. Zwei Stunden lang hat die 22 Jahre alte Studentin versucht, mit dem vom Regen der vergangenen Nacht durchfeuchteten Holz ein Feuer zu machen. Geflucht hat sie und gehustet, wenn eine Rauchschwade sie erfasst hat. Jetzt aber grinst sie und sagt: „Das Frühstück wird fertig.“ Gemeinsam mit ihrem Essensdienstpartner für diesen Morgen, dem Moskauer Unternehmensberater Sascha, schiebt sie zwei mit Wasser gefüllte Eimer auf die Stange über dem Lagerfeuer. Einen für Tee und Kaffee, den zweiten für Hirsebrei. Ein ordentliches Feuer ist das wichtigste im Lager, das hat das knappe Dutzend freiwilliger Helfer schnell gelernt in der sibirischen Wildnis am Baikalsee. Ohne Feuer kein Tee, ohne Feuer kein Essen -- und ohne Nahrung würde es nichts mit dem engagierten Projekt, knapp zwei Wochen lang an dem Weg zu arbeiten, der in ferner Zukunft lückenlos um den See laufen soll.
Mehr als 800 Freiwillige haben sich im vergangenen Jahr Schwielen an die Hände und Schmerzen in den Rücken gearbeitet. 50 davon kamen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, angeworben von Baikalplan. Es ist die Partnerorganisation des sibirischen Vereins Greatbaikaltrail (GBT). Geld gibt es nicht, aber viel zu erleben und zu lernen - über die russische Kultur und darüber, wie das Leben in der Natur funktioniert. Sweta kippt gezuckerte Kondensmilch in den köchelnden Brei, Rosinen und Zucker hinterher. Zwischendurch fischt sie Holz- und Rindenstücke aus dem Tee-Eimer. Sascha legt Holz nach. Geweckt von der aufkommenden Hitze, kommen die anderen Teilnehmern aus den Zelten gekrochen, lassen sich Schöpfkellen mit dampfendem Brei in die Blechnäpfe füllen und suchen sich einen Stein am Strand zum Sitzen.
„Das tut gut“, sagt die Schottin Alison und nimmt einen Schluck Tee. Mit ihren 37 Jahren ist sie die Älteste im Camp. Die Hitze tagsüber macht ihr zu schaffen, die Mückenplage auch, und der harte und unebene Waldboden nachts tut sein Übriges. Nun aber sitzt sie auf einem Felsblock und blinzelt gegen die Sonne auf den See. Das Wasser kräuselt sich, ein leichter Wind weht vom Baikal. Die ersten Fischkutter ziehen in der Ferne vorbei. Am Horizont zeichnen sich die Gebirgszüge des gegenüberliegenden Ufers ab. „Macht euch fertig“, ruft Campleiterin Natascha. „Wir treffen uns in zehn Minuten, denkt an die Handschuhe und Mückenmittel.“ Mit einem Seufzer nimmt Alison Abschied von der morgendlichen Idylle, die anderen folgen. Sechs Stunden Waldarbeit stehen bevor, unterbrochen von Teepausen und Mittagessen. Anfangs noch ungewohnt, wird das Hacken und Schneiden, Sägen und Wurzelnreißen bald zur Routine.
Mindestens 60 Zentimeter soll der Pfad breit sein. Die Befriedung soll klar abgegrenzt sein, Stolpersteine müssen raus. Wer sich körperlich überfordert fühlt, holt Hilfe. Und es sind nicht nur bürogestresste Akademiker, die ihren Ausgleich in der Wildnis suchen. Bei Baikalplan melden sich Männer im Rentenalter genauso wie Architekten, die sich speziell für Bauarbeiten interessieren, und Jugendliche, die nach der Schule ein Abenteuer suchen. „Die Motive, warum die Leute nach Sibirien wollen, sind eindeutig zwischen West und Ost geteilt“, sagt Tom Umbreit von Baikalplan. „Die im Osten haben oft Kontakte nach Sibirien und wollen noch mal in die Gegend reisen, die aus dem Westen treibt die Neugier.“
1995 reiste eine Handvoll damaliger BUND-Mitglieder aus Dresden das erste Mal nach Sibirien auf der Suche nach einem Partner-Jugendverein. Sie fanden die Umweltschützer vom Baikalsee, die Idee eines „Greatbaikaltrail“ entwickelten sie mit. Vor fünf Jahren gründeten sie ihren eigenen Verein, Baikalplan. Das knappe Dutzend Mitstreiter arbeitet ehrenamtlich. „Ein Stück weit treibt uns inzwischen auch das Verantwortungsbewusstsein“, sagt Umbreit. Von der Arbeit hier hingen einige Arbeitsplätze bei den Greatbaikal-Leuten ab. „Außerdem habe ich mich natürlich in die Gegend verguckt, und den anderen geht es ähnlich.“
Doch die See-Idylle ist trügerisch. Um den ganzen See herum leiten Fabriken weiter ihre Abwässer in den Baikalsee und gefährden so seinen Status als Frischwasserquelle. Touristen schmeißen jegliche Art von Müll über die Brüstung der Ausflugsdampfer, in Dörfern wird wild und konzeptlos ein Hotel neben das andere gepflanzt. Baugenehmigungen sind ein Fremdwort, gewachsene Ortskerne werden vernachlässigt.
Die Sonne steht inzwischen hoch über dem See, Ausflugsdampfer und Fischkutter mehren sich. Am Feuerplatz räumen Sweta und Sascha die Reste des Frühstücks weg, spülen Eimer, Näpfe und Becher mit biologisch abbaubarem Spülmittel. Vier Tage hat Sweta im Zug gesessen, auf den billigen Plätzen, um an den Baikalsee zu kommen und sich von der Zivilisation zu verabschieden. „Ich mag dieses Leben draußen“, sagt sie mit einem Schulterzucken, gefragt nach ihrer Motivation.
Ein Wanderweg rund um den Baikalsee! 2.000 Kilometer! Die meisten Einheimischen schüttelten den Kopf über die jungen Menschen, die sich im Sommer in die Wälder aufmachten, um harte unbezahlte Arbeit zu leisten. „Am Anfang war es schwer“, erinnert sich Natascha. Nach und nach haben die Hotelbesitzer, Gastwirte und Busunternehmer in Dörfern wie dem Touristenflecken Listwjanka gesehen, dass die jungen Umweltschützer sehr wohl Urlauber anlocken - Menschen aus allen Teilen Russlands und fremden Ländern, die wegen der intakten Natur kamen, wegen des sauberen Wassers. Und die wandern wollten. Sie fingen an, die Freiwilligenarbeiter zu respektieren. Bei Greatbaikal arbeiten vier hauptamtliche Leute. Fast 500 Kilometer und damit etwa ein Viertel des geplanten Wegs sind in den vergangenenen fünf Jahren gebaut worden. Teilstücke werden in Reiseführern empfohlen.
Die Sonne steht inzwischen fast auf der Wasseroberfläche. Sweta putzt weiter Möhren und schält Zwiebeln. Im Topf brodelt erneut Wasser. Es gibt Kascha, Buchweizen mit Gemüse und Fisch aus der Dose. Sweta ist spät dran, die anderen kommen aus dem Wald zurück. Müde stolpern sie zum Lagerfeuer. Der Magen knurrt, die Glieder schmerzen. Die Minuten bis zur Essensausgabe dehnen sich, ein ständiges Linsen in den Topf, hinter jedem Handgriff Swetas steht die unausgesprochene Frage: „Ist das Essen fertig?“. Diese Minuten, sie sind Tiefpunkte. Später, als die Mägen gefüllt sind und die Gruppe mit Tee, Keksen und pappsüßen russischen Bonbons um die Feuerstelle sitzt, sind sie vergessen.
Die Idee, einen Wanderweg um den Baikalsee zu bauen, ist weder neu, noch mangelt es an Vorbildern. 2003 erfolgte dann tatsächlich der Startschuss, und seitdem wurden mithilfe von Freiwilligen aus aller Welt fast 500 Kilometer Wanderwege bereinigt oder sogar neu gebaut. Es entstanden neue Brücken und erste Lagerplätze, aber es wurden auch Ruinen beseitigt, Müll gesammelt, Bäume gepflanzt, behindertengerechte Zugänge realisiert oder beim Wiederaufbau eines Tempels geholfen. War anfangs ein Rundweg geplant, so ist diese Idee inzwischen dem Bau eines Wanderwegenetzes mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden gewichen. Der Aufbau eines 2.000 km langen Wanderwegenetzes ist nicht von heute auf morgen möglich und erfordert weiterhin eine breite Unterstützung aus dem In- und Ausland. www.baikalplan.de
Der Sage nach ist der Baikal ein krummbuckliger Greis, mit unzähligen Söhnen, aber nur einer Tochter, die er abgöttisch liebte. Die Tochter jedoch, Angara, verliebte sich in den jungen Jenissei. Weil der Vater sie nicht ziehen lassen wollte, schlich sie sich nachts fort von zu Hause, um sich mit Jenissei zu vereinen. Der Greis tobte vor Wut, als er die Flucht bemerkte, und schmiss seiner Tochter einen immensen Felsblock hinterher. Daher hat der Baikal zwar zahlreiche Zuflüsse, aber nur einen Abfluss, Angara. An der Stelle, an der die Angara aus dem See fließt, liegt ein Felsblock mitten im Wasser.
Sweta verschwindet kurz im Wald, bevor sie sich in ihren Schlafsack rollt. Sie kommt zurück mit Kleinholz unter dem Arm, das sie ihrer Zeltpartnerin übergibt. Die wird am nächsten Morgen für das Frühstück verantwortlich sein. „Für das Feuer“, sagt Sweta auf Englisch mit ihrem melancholischen russischen Akzent. „Es brennt besser, wenn es trocken ist.
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