: Wenn Gepiercte Trauer tragen
In Dormagen wurde der Volkstrauertag verjüngt: Zwischen Schützenbrüdern und Reservisten erinnerten Gesamtschüler an das Schicksal von Zwangsarbeitern und Goebbels Kriegshetze
AUS DORMAGENLUTZ DEBUS
Auf den knapp hundert kniehohen Steinkreuzen stehen Grabkerzen. Rote Lichter in Reih und Glied, umhüllt vom Novembernebel. Eine Menschentraube bildet sich auf einer weiten Rasenfläche: Schützenbrüder in Uniform, Feuerwehrleute mit Blasinstrumenten, ältere Damen und Herren in dunklen Mänteln und dazwischen einige Gesamtschüler. Nina ist 19, ihre Jeans sind abgenutzt, im Gesicht trägt sie mindestens fünf Piercings: „Ich bin das erste Mal hier – es ist wichtig, an die Opfer der Kriege zu denken“, sagt sie. Dass die alten Leute, auch die Uniformierten, diese Trauer ernst nehmen, findet sie gut. Aber wie ist die Oberschülerin nur auf die Idee gekommen, an diesem feuchtkalten Novembersonntag ausgerechnet auf einem Friedhof herum zu stehen und getragenen Trauermärschen zuzuhören?
„Durch den biologischen Faktor veränderte sich das Publikum“, glaubt Guido Schenk, der Geschäftsführer des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK) in Dormagen, einem Städtchen nördlich von Köln. In den letzten Jahren wären immer weniger Bürger zu der Trauerfeier gekommen, erläutert er. Die direkten Nachkommen der Opfer des Zweiten Weltkrieges würden eben allmählich aussterben. Und zum Großvater oder gar zum Urgroßvater fehle häufig der Bezug. Deshalb habe er nun neue Wege bei der Gestaltung des Volkstrauertages suchen wollen.
Schenk sprach deshalb den Geschichtslehrer einer Gesamtschule an – und Uwe Koopmann, der für sein politisches Engagement bekannt ist, sagte zu. So entstand die Idee, den Volkstrauertag einmal ganz anders zu begehen: Bisher hielten Politiker, Pfarrer, Repräsentanten der Schützenvereine ihre Reden. In diesem Jahr hatten die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 13 der Bertha- von-Suttner-Gesamtschule das Wort.
Zunächst mussten sich die Jugendlichen auf den Gedenktag vorbereiten. Zum theoretischen Schulwissen über die beiden Weltkriege fehlte den AbiturientInnen der örtliche oder emotionale Bezug. Der 58-jährige Geschichtslehrer verlegte seinen Unterricht deshalb kurzerhand auf den Friedhof. Statt in Lehrbüchern lasen die Schülerinnen und Schüler nun von Steinplatten. Ein Abiturient entdeckte dabei den Namen seines Urgroßonkels – der war als kleiner Junge mit seiner Mutter von einer Fliegerbombe getötet worden. Die Jugendlichen fanden Grabinschriften mit fremden Buchstaben, Kyrillisch. Sie forschten weiter und stießen auf die Geschichte der Zwangsarbeiter von Dormagen.
Das Thema „Zwangsarbeit“ war ohnehin bereits Bestandteil des Geschichtsunterrichts von Uwe Koopmann. Informationen zu bekommen, so der Pädagoge, sei für seine Schülerinnen und Schüler nicht einfach gewesen. Viele Zwangsarbeiter wurden in den Werken der IG Farben eingesetzt. Als Rechtsnachfolgerin verwaltet die Bayer AG in Dormagen deren Akten. Dort verwies man die angehenden Historiker aber an das Stadtarchiv. Dies wiederum schickte die Jugendlichen zurück zum Chemiewerk.
Im Jahr 2000, berichtet Koopmann, sei er mit einem Geschichtskurs sogar bis nach Berlin gefahren. Man habe an einer Mahnwache vor dem Bundeskanzleramt teilgenommen. Die Gespräche mit den dort anwesenden ehemaligen polnischen Zwangsarbeiter hätten manchen Jugendlichen sehr berührt. Ins Haus der Deutschen Wirtschaft wollte man die Dormagener gar nicht hinein lassen. Dabei wollten die SchülerInnen zur Unterstützung des Entschädigungsfonds für Zwangsarbeiter einen Sack voller Pfennigstücke spenden. Begeistert berichtet Koopmann von den Exkursionen. Seine schulterlangen Haare sind etwas ergraut. Aber seine Augen leuchten durch dicke Brillengläser, wenn er von den zwei Tagen in Berlin erzählt.
Auch Lehrer Koopmann hat seine Geschichte: 1977 bis 1992 fiel er unter den Radikalenerlass. Als DKP-Mitglied bekam er in Niedersachen Berufsverbot. Und heute lauscht der einstige Verfassungsgegner inmitten von Uniformierten dem Vortrag seiner Schülerin auf dem Friedhof.
So referiert Seher Karaca über die Sportpalastrede von Joseph Goebbels. Goebbels Geburtsort ist das nahe gelegene Rheydt, heute ein Stadtteil von Mönchengladbach. Die Abiturientin, deren Eltern aus der Türkei stammen, analysiert detailliert die rhetorischen Tricks, die in einem tausendfachen „Ja“ auf Göbbels Frage nach dem totalen Krieg gipfelten.
Stramm stehen die Schützenbrüder zu den Worten der Schülerin. Fahnen und Fackeln halten sie hoch. „Bürgerschützenverein von 1867“ steht auf einer Standarte. Ihre schwarzen Stiefelschäfte glänzen. Schülerinnen gehen durch die Reihen, verteilen Blumen an die Uniformierten. Dann setzt sich die Gruppe in Bewegung.
Knapp hundert Meter weiter liegen Grabplatten kreisförmig angelegt im Rasen versenkt. Fremd klingende Namen stehen darauf. Zwangsarbeiter. In Dormagen wird ihnen das erste Mal am Volkstrauertag gedacht. Jetzt hält Julia, ebenso aus der 13. Jahrgangsstufe, ihre Rede. Auf russisch. Die Tochter von Russlanddeutschen verliest ein Grußwort von Wladimir I. Naumow. Der Professor aus Moskau ist Mitglied im Zentralrat ehemaliger minderjähriger Opfer des Faschismus und ein Freund von Uwe Koopmann.
Die Gäste der Trauerveranstaltung sind still. Die weichen russischen Worte sind nur in den ersten Reihen zu hören. Nach dem russischen Vortrag folgt die deutsche Übersetzung: „Deutsche Kriegstruppen, die in die besetzten Länder einmarschierten, erfüllten gezwungenermaßen den bösen Willen des Führers. Sie nahmen nicht nur an Kriegshandlungen, sondern auch an Hinrichtungen teil.“ In der ersten Reihe stehen auch zwei Bundeswehrreservisten in feldgrauer Uniform. Der Stabsunteroffizier der Reserve, Siegfried Zabel, verzieht keine Miene. Auf seinem grünen Barett prangt silbern ein Panzer. Später versichert er, wie gut er es findet, dass neue Akzente gesetzt werden.
Zum Abschluss der Trauerfeier werden Blumen auf die Grabsteine gelegt. Ein älterer Mann im grünen Drillich, gerade hat er eine Nelke von einer Schülerin erhalten, legt sie auf die Grabplatte eines flämischen Zwangsarbeiters: „Wie gewonnen, so zerronnen“, murmelt er.
Im nächsten Jahr, so Guido Schenk vom VDK, wolle er die Veranstaltung wieder in dieser Form durchführen. Dass sich so viele junge Menschen beteiligt haben, sei ein Erfolg. Auch Uwe Koopmann hat schon Pläne für den zweiten Sonntag im November 2006. Er kenne eine Jüdin aus Amsterdam, Überlebende des Holocaust, die wolle er gern einladen. Und einen französischen Widerstandskämpfer, einen ehemaligen Häftling des KZ Buchenwald. Und dann hat er noch Kontakt zu einer Schule im Norden von Griechenland. Dort forschen die Schüler gerade zu einem Massaker, begangen von der Wehrmacht an der griechischen Zivilbevölkerung.
Die SchülerInnen der Bertha-von-Suttner-Gesamtschule hatten bereits für dieses Jahr eine andere Idee. Statt der getragenen Blasmusik der Freiwilligen Feuerwehr hätten sie lieber die US-amerikanische Nationalhymne gehört. In der Gitarren-Version von Jimi Hendrix, mit Maschinengewehrsalven, Sirenengeheul, Explosionen. Das Blasorchester hätte zu Hause bleiben können.
„Das wär nicht schlimm gewesen“, gibt ein junger Feuerwehrmann zu: „Der Volkstrauertag ist sowieso der unbeliebteste Termin bei uns – es gibt kein Geld und nichts zu trinken.“ Die Stadt erwarte aber von der Freiwilligen Feuerwehr, dass sie die musikalische Gestaltung übernimmt. Uwe Koopmann hört das und muss lachen: „Da bekommt das Wort Zwangsarbeit ja eine ganz neue Bedeutung.“
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