Lilien für die Nerven

Der Nächste, bitte. Wer auf den Arzt wartet, braucht Geduld. Gemälde und Fotografien sollen den Patienten ablenken. Ein Galerierundgang

Von Julia Wötzinger

Die Lehnen der ergonomisch geformten Stühle knarren. Schüchterne Blicke wandern von der Topfpflanze über die Zeitschriften an die Wände. Dort sollten sie verharren, denn Kunstwerke in Wartezimmern sind mehr als bloße Dekoration.

Wartezimmer bieten, ähnlich wie Galerien, die perfekte Voraussetzung für Kunstbetrachtung: Ruhe, Zeit und Wohlfühlatmosphäre. Auch wenn die Gedanken angesichts der bevorstehenden Wurzelbehandlung alles andere als ruhig sind, sollte der Patient diese Kunst als solche wahrnehmen.

In einer gynäkologischen Praxis in Kreuzberg zeigt eine Bilderserie die vier Jahreszeiten. Grün und Rot stehen für den Frühling, warmes Gelb lässt die Hitze des Sommers spüren. Das Motiv der Sonne zieht sich durch die abstrakte Serie. Wer in die Bildwelt eintaucht, versteht die Botschaft: Der Wandel der Jahreszeiten symbolisiert Wachstum und Fruchtbarkeit – passend zum Thema Gynäkologie.

Endlos lange Beine und der Schal des Models

Praxen sind Orte der Ästhetik. Kristina Kömpel-Schütz von der Fotogalerie „gllry“ hat das erkannt und sich auf Kunst in Wartezimmern spezialisiert. „Man kann die Praxen in drei Kategorien teilen“, sagt Kömpel-Schütz. Ärzte der ersten Kategorie inszenieren ihre eigene Spezialisierung als Leitmotiv.

Vor allem Praxen für plastische und ästhetische Chirurgie, Haut- oder Augenärzte legen Wert auf ansprechende Wartezimmerkunst. Hier erblickt der wartende Patient Schwarz-Weiß-Fotos langer Beine, eine nackte Dame unter einem Wasserfall oder einen Schal, der das Gesicht eines Models umspielt.

„Die Kunst darf aber nicht mit dem Finger zeigen und Vorbilder versprechen“, erklärt Kömpel-Schütz.

Die Bilderwahl soll ein gewisses Qualitätslevel und die Linie der Praxis zeigen. Die zweite Kundengruppe von „gllry“ möchte ein einheitliches Interieur gestalten. Bildthema, Farben und Möbel prägen die Warteatmosphäre. Die dritte Kategorie von Ärzten schließlich wählt Motive, deren Ästhetik ablenken und besänftigen soll. Leuchttürme an der Küste oder Aufnahmen aus Afrika locken den Patienten in ferne Welten, bevor er auf den Behandlungsstuhl muss.

Ein etwa 2 x 1,50 Meter großes Bild hängt in einer Zahnarztpraxis in Moabit. Öl auf Leinwand. Orange, Rot und Gelb fügen sich zu floralen Formen zusammen. Sind das Lilien? Der Malduktus verwischt die Konturen der Bildgegenstände, sie bleiben aber erkennbar. Grüne Stängel und Blätter ragen zwischen orangen Farbfeldern hervor. Das Bild bringt Frische in den Raum. Farben verbreiten Stimmung: Während dunkelrote abstrakte Malereien oder animalische Naturszenen nervös machen, wirkt Grün beruhigend.

Kunst besänftigt. Bis der Arzt kommt

Der Streifzug durch Berliner Arztpraxen verrät: Wartezimmer können wie Galerien entdeckt werden. Hier ist Kunst nicht l‘art pour l‘art. Sie darf und soll wirken. Sie besänftigt, fasst das Thema der Praxis auf oder ist einfach nur schön anzusehen. Für einige Minuten entfliehen die angespannten und leidgeprüften Patienten der hygienisch sauberen Praxis. Die Kunst hat ihren Zweck erfüllt. Der Nächste, bitte.