die wahrheit: Auf feuchter Matratze

Ein anstrengender Tag im Leben des Berliner Langzeitarbeitslosen Rolf B.

In den guten alten Zeiten war das tägliche Leben als Langzeitarbeitsloser noch vollkommen unbeschwert. Bild: ap

Vor 28 Jahren war die Welt für Rolf B. noch in Ordnung. Damals, als seine gerade feierlich begossene Arbeitslosigkeit in Berlin-Steglitz ihren glamourösen Anfang nahm, war die soziale Hängematte noch eng gestrickt und schien Millionen und Abermillionen von Erholung suchenden Müßiggängern Platz zu bieten. "Morgens zum Kiosk am Rathaus, ein Bier auf den Deckel, um eins hoch zum Sozialamt, die Stütze abholen - und dann wieder runter zu Kiosk und Deckel", erinnert sich B. wehmütig der guten alten Zeiten.

Doch zusehends wurde es enger in der Matte, sie bekam erste Löcher, und es begann unangenehm zu riechen. Statt eines dauernden Schaumweinregens gab es Wirtschaftsflaute und Rezessionsangst, und mit dem Mauerfall kamen Millionen von Ostzonenbewohnern hinzu, die vom Begrüßungsgeld nicht genug bekamen und ihrerseits auf Sozialhilfe pochten. Die Mittel wurden knapper, und auf dem Amt legte man Rolf B. erstmals nahe, sich doch vielleicht einmal auf dem Arbeitsmarkt umzusehen.

Heute ist an solch paradiesische Zustände wie damals in Steglitz nicht mehr zu denken. Längst musste B. ins verrottete Neukölln umsiedeln, wo er sich im Rinnstein der Sonnenallee eine Wellblechhütte zusammengezimmert hat. Der Wind peitscht an die Wände und lässt das Metall in ohrenbetäubendem Lärm erzittern. Von oben und unten dringen reißende Ströme kalten Regenwassers in die Tristesse des Raumes. Und draußen wird die Hütte bereits von Schwaben begutachtet, die ein Vielfaches mehr für den Quadratmeter Neuköllner Bordstein zahlen würden.

Ein angenehmes Verweilen ist auf der dauerfeuchten Matratze vor dem gefundenen Schrottfernsehgerät nur eine Illusion. Doch Zeit für Muße und "Mittagsmagazin", geschweige denn Bundestagsdebatten auf Phoenix oder "Richterin Barbara Salesch" am Nachmittag bleibt dem Vollzeitarbeitslosen ohnehin nicht mehr. Sein heutiger Tagesablauf gleicht dem eines Langzeitvollbeschäftigten: Termine, Termine, Termine. Nur ein Standbild in Schwarzweiß bekommt er vom "Morgenmagazin" zu sehen, "weil die Glotze im Arsch ist, aber ich brauche die Uhrzeit", schimpft B. verschwitzt. Dann muss er schon los: einkaufen im jüngst von der BZ prämierten Drogensupermarkt am Kottbusser Tor, Döner essen, zwei Bier und rein in die U-Bahn, wo er zur Aufbesserung des kargen Regelsatzes das Obdachlosenmagazin 030 verkauft.

Die Stapel liegen auf den Zigarettenautomaten vor den Toiletten angesagter Läden, wo Siemens-Manager und andere Kunststudenten ihren Kaffee schlürfen. "Möchte wissen, woher die ihre Zeit nehmen", ächzt B., der mit Mitte 50 auch nicht mehr der Jüngste ist und schon zu seinem nächsten Termin muss: bei der Arbeitsagentur vorstellig werden, um den Einsatzort für seinen nächsten Job in Erfahrung bringen. Am Halleschen Tor nehmen Kontrolleure noch seine Adresse auf: "Sonnenallee, na prima! Da werden einem doch sogar die Rechnungen geklaut!"

Angekommen beim "Arschamt", wie B. es verächtlich nennt, erfährt er, wohin es als Nächstes geht: Das "Leichenschauhaus", ein Altenpflegeheim in Berlin-Karlshorst, sucht Langzeitarbeitslose zur Betreuung der demenzkranken Heimbewohner. "Beginn der Spätschicht 11.30 Uhr, Feierabend flexibel. Haben Sie schon mal mit Demenzkranken gearbeitet?" Doch als B. von seinen Erfahrungen mit dem Abriss asbestverseuchter Gebäude berichten will, hört der Sachbearbeiter schon gar nicht mehr hin.

In der S-Bahn gerät B. in einen Disput mit zwei Verkäufern der Konkurrenz von Siegessäule und Wachturm, die ihn und sich lautstark bezichtigen, sich gegenseitig die Kundschaft abspenstig zu machen. Bei einem Bier am Ostkreuz wird der Streit beigelegt, und es stellt sich heraus, dass die beiden auf dem Weg in Pflegeeinrichtungen jenseits des östlichen S-Bahnrings sind, um Demenzkranke zu betreuen.

Weniger harmonisch als die Verabschiedung ist der Dienstbeginn im "Leichenschauhaus". B. soll gleich drei Bewohner in den Park begleiten. "Da hat jeder seine eigene Macke", ruft ihm die Schwester noch spöttisch nach, da marschiert der Erste bereits singend ins freie Gelände. B. versucht verzweifelt ihn zurückzuhalten, als es hinter ihm kreischt: "Mörder! Diebe! Wo sind meine Zigaretten?"

"Sie sind also langzeitarbeitslos?", beginnt schließlich der Dritte und setzt begeistert hinzu: "Mein Langzeitgedächtnis funktioniert ja auch noch ganz gut. Ja, früher war eben doch alles anders irgendwie …" Erst als viel später alle vier mit einem Kräuterbitter auf der Parkbank sitzen, kehrt für Rolf B. zum ersten Mal an diesem Tag so etwas wie ein wenig Ruhe ein.

Am Abend wird B. auf die feuchte Matratze in seiner Neuköllner Behausung fallen, noch ein paar Sekunden auf das Standbild Tom Buhrows starren und schließlich einschlafen, ohne vom Lärm jenseits der Blechwände auch nur das Geringste zu hören. Und das ist auch gut so, denn morgen wartet ein weiterer anstrengender Tag im Leben des vollbeschäftigten Langzeitarbeitslosen Rolf B.

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