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Kolumne OverseasDont confuse me with facts

Kommentar von Adrienne Woltersdorf

Die Urteilsfähigkeit des menschlichen Gehirns ist eine erstaunliche und erstaunlich eigenwillige Sache.

Obama ist ein Muslim. Also ich bitte Sie, wie kann man denn einen Muslim zum US-Präsidenten wählen?", fragt die Inhaberin eines kleinen Ladens mich in Murdo, South Dakota. Ich habe sie nach dem Wetter gefragt und was sie von dem Wahlkampf hält. Sie ist eine reizende dicke Person, die trotz des nagelnden Steppenwindes da draußen fröhlich jeden anstrahlt "Obama ist kein Muslim", entgegne ich, "er hatte doch ein Pfarrer-Problem, erinnern Sie sich?", frage ich zurück. Nein, nein, er sei Muslim, sie habe das Foto gesehen, wo er einen weißen Turban trägt. "Aber das Foto ist aus Kenia", entgegne ich geduldig, da dies nicht die erste Unterhaltung dieser Art ist, die ich in den Weiten der USA führe. In Kenia besuchte er seine Familie und wollte zur Begrüßung aus Höflichkeit eben einen Turban tragen. "Aber im Internet habe ich gelesen, dass er heimlich Moslem ist", beharrt sie: "Er geht seit 20 Jahren in eine protestantische Kirche in Chicago, seine Kinder sind christlich getauft", sage ich freundlich und in der Hoffnung, hier der Menschheit einen Dienst zu erweisen.

taz

ADRIENNE WOLTERSDORF ist USA-Korrespondentin der taz.

Nachdem ich mir ein Rinder-Jerky gekauft habe, getrocknetes Rindfleisch als Snack, sagt sie noch zu mir: "Er scheint ein wirklich netter Kerl zu sein, aber er hat bei seiner Amtseinführung heimlich auf den Koran geschworen!" Okay, weiterfahren, denke ich, und einfach die Schönheit der endlosen Landschaft genießen. Warum haben solche halbhirnigen Nichtswisser dieses schöne Land besiedelt, schimpfe ich vor mich hin. Ah, Moment, das waren wir selbst. Okay. Also anders geärgert. Was ist bloß falsch verdrahtet in Menschen, die Sarah Palin ernsthaft im Weißen Haus sehen wollen und glauben, dass sie im Irak einen glorreichen Sieg errungen haben? Ich fasse es nicht. Nach drei Jahren in diesem Land verschlägt es mir immer noch die Sprache.

Um keine billige Häme zu entwicken, schließlich soll ich fair berichten - ja, hoffentlich ruft meine Redaktion nicht eines Morgens an, damit ich einen neuen Präsidenten John McCain erkläre! -, um also diesen versammelten Unsinn zu verstehen, habe ich mir das Buch eines Neurowissenschaftlers gekauft. Darin erklärt er ausführlich, dass die Urteilsfähigkeit des menschlichen Gehirns weitgehend ohne Fakten auskommt. Oder umgekehrt, mit gegenteiligen Fakten konfrontiert, ändern die meisten Menschen noch lange nicht ihre einmal gefasste Meinung. All das ist traurig, aber es lässt mich die Landschaft in diesem Land ungestörter würdigen.

Als ich in Minnesota schließlich auf ein reizendes Ehepaar stoße, mit dem ich über ihre Wurzeln im heutigen Polen spreche, über Europa und ihre häufigen Reisen dahin und wie wichtig es wäre, dass sich Europäer und Amerikaner wieder näherkommen und so weiter. Dann erzählen sie mir, dass sie zurzeit so einen Wahnsinns-Stress haben, denn sie müssen eine ihrer zwei kleinen ererbten Farmen verkaufen. Ich erkundige mich, ob sich das Anwesen nicht mehr vermieten lässt oder ob sich die Renovierung nicht rechnet. "Nein, das ist es nicht, aber Obama wird die Steuern erhöhen und das können wir uns dann nicht mehr leisten", sagen sie entschieden. Ich scherze erst und frage, ob sie als Republikaner schon genau wüssten, dass Obama Präsident wird. Dann aber sage ich verwundert: "Obama will doch überhaupt keine Steuern erhöhen, im Gegenteil, die Mittelklasse will er doch sogar entlasten und nur für die Superreichen endlich wieder Steuern einführen!" - "Er wird bestimmt die Steuern erhöhen, er ist schließlich ein Demokrat", sind die beiden ganz gewiss. Ich versuche sie vor dem vorschnellen Verkauf ihres Erbes zu retten und entgegne, das sei doch lediglich Wortverdreherei der Spindoktoren von John McCain. Der einzige Präsident, hohle ich zum Hammerschlag aus, der über Steuern je gelogen habe, sei Vater Bush, ein Republikaner, gewesen. Beide nicken, sagen aber unisono: "Demokraten kann man nicht trauen." Ich verabschiede mich freundlich und beschließe, von meiner ursprünglichen Aufassung trotz gegenteiliger Fakten nicht abzuweichen: Auch Amis sind lernfähig.

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