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die wahrheitPils, Pilze und Papier

Kommentar von Dieter Grönling

Ein Buchdenkmal für den unvergessenen Wahrheit-Autor Michael Rudolf.

Wer war Holger Sudau? Nun, zunächst einmal ein wüster Säufer, ein Blender und dreister Scharlatan, dessen Leitspruch ,Zum Leben zu viel, zum Sterben zu wenig' lautete, der den Staat DDR, eine menschenverachtende, waschechte Diktatur immerhin, vollrohr ignorierte, ein begnadeter Dichter, ein unbeirrbarer Visionär und riesengroßer Schlauberger, der aus Wissenschaft und Kunst kaum wegzudenken wäre, ein Mann mit neunhundertneunundneunzig Gesichtern und doch seinen engsten Vertrauten ein Unbekannter. Holger Sudau - ein Phantom? Vielleicht."

So beginnt Michael Rudolf die Hörspielfassung von "Morgenbillich. Die Wahrheit über Holger Sudau." Immer wieder ist Holger Sudau in Michael Rudolfs Schaffen als Alter Ego aufgetaucht, über Jahre hinweg - bis er ihn irgendwann "irrtümlich" verschwinden lässt. Ein Hinweis? Vielleicht. Denn plötzlich verschwindet auch Michael Rudolf. Am Morgen des 2. Februar 2007 verlässt er das Haus. Am Ortsausgang seiner in Thüringen gelegenen Heimatstadt Greiz wird er ein letztes Mal gesehen. Erst fünf Monate später entdeckt ihn eine Pilzsammlerin in einem einsamen Waldstück. Er hatte sich an einem Baum erhängt.

Jetzt hat sein Freund und gelegentlicher Koautor Jürgen Roth ein dickes Buch zum Gedenken an Michael Rudolf veröffentlicht, das, so der Verlag, "alle Facetten dieses wunderbaren Autors aufleuchten lässt". Auf mehr als 600 Seiten ehren ihn knapp vierzig Freunde und Weggefährten in Textbeiträgen, Fotos und Zeichnungen. Dazu gibt es zahlreiche Texte von Michael Rudolf selbst. In halbwegs chronologischer Folge präsentiert der Herausgeber ältere und neue Beiträge zu Rudolfs Leben und Schaffen.

Das war keineswegs auf das Verfassen humorvoller Beiträge beschränkt. So hat zum Beispiel der gelernte Ingenieur für Brauereitechnik mehrere Bierlexika und -bücher verfasst, anfangs noch gemeinsam mit Jürgen Roth. Aus 1.516 verkosteten Bieren wurden schnell 2.000 - für die Autoren nach eigenem Bekunden eine echte "Sisysuffarbeit" und für Bild Grund genug, Michael Rudolf wegen teils vernichtender Bewertungen den Titel "Deutschlands gefürchtetster Biertrinker" zu verleihen.

Daneben war er ein gewissenhafter Pilzexperte, kannte sich mit den Gitarrenquälern der Hardrockzeit wie Ritchie Blackmore bestens aus, betrieb eine Zeitlang den von ihm gegründeten Buchverlag Weisser Stein - und schrieb humorige Texte für allerlei Publikationen.

Die Liste der Mitwirkenden an diesem Buch ist schon deshalb gewaltig, weil beinahe die gesamte Humoristenszene vertreten ist und unglaubliche Vorgänge, Ereignisse und Abenteuer offenbart. Wer regelmäßig Die Wahrheit oder Titanic liest, kennt ihn und die meisten der Freunde und Kollegen sowieso. Auch wer bislang noch nie etwas von Michael Rudolf oder den vielen anderen Autoren gehört oder gelesen hat, wird große Freude an diesem Buch haben, denn es gewährt wunderbare Einblicke in Alltag und Schaffen der Humoristen, wie sie gemeinsame Projekte verfolgen oder sich mitunter in verbalen Scheingefechten lustvoll bekriegen.

Bei all dem geballten Humor bleibt am Ende die melancholische Einsicht, dass offenbar erst einer von Bord gehen muss, bevor jemand auf die Idee kommt, ein so schönes Buch zu machen.

Jürgen Roth (Hg.): "Der Mann mit den neunhundertneunundneunzig Gesichtern - In Gedenken an Michael Rudolf", Oktober Verlag 2008, 607 S., 24 € "Der saubere Herr Rudolf". Lesenacht im Schlachthof Kassel am 18. 10. 2008, 20 Uhr, mit F. W. Bernstein, Eugen Egner, Thomas Gsella, Gerhard Henschel, Michael Ringel, Jürgen Roth, Michael Sailer, Kay Sokolowsky, Ralf Sotscheck, Horst Tomayer & ©Tom, Eintritt: 12 €

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