Buchmessen-Veteran: Der regelmäßige Besucher
Früher war Hansjörg Graf beruflich auf der Frankfurter Buchmesse. Heute kommt der pensionierte Cheflektor zu seinem privaten Vergnügen. In diesem Jahr zum 51. Mal.
Es gibt Gewohnheiten, von denen man ungern lässt. Fünfzigmal hat Hansjörg Graf bereits die Frankfurter Buchmesse besucht, einmal musste er krankheitsbedingt fehlen. In diesem Jahr ist er zum einundfünfzigsten Mal angereist, hat sich wie jedes Jahr für vier Nächte Zimmer zehn in einem Motel belegt - mit einem schönen, ruhigen Blick auf den Park. Morgens steht er an der Bushaltestelle und wartet auf den Transfer zur Messehalle. Ein schmaler Herr von ausgewählter Höflichkeit, mit sympathisch kluger, leicht ironischer Miene. Seit er aus dem Beruf schied, ist die Buchmesse sein ungeteiltes "Privatvergnügen", ein über Jahrzehnte gewachsenes, immer neu gefülltes Ritual, von ungezählten Begegnungen mit alten und neuen Bekannten begleitet, Autoren, Verlagsmitarbeitern, "ein großer Spaß".
Sehr wahrscheinlich, dass auch diese Buchmesse ihn wieder "völlig aufmischt und inspiriert", er den Mittwochabend bei Suhrkamp zutiefst genossen hat, den Donnerstagabend bei S. Fischer, den Freitag mit dem Beck-Verlag und die Feiern bis tief in die Nacht. Ein "Grufti" ist er inzwischen geworden, oder auch "der Komposti vom Dienst", denn Hansjörg Graf ist nunmehr 86 Jahre alt und sich seiner "jahrgangsbedingten Einschränkungen" wohl bewusst.
Ein Teil seines Lebens
All das könnte nach einem recht oberflächlichen Zeitvertreib ausschauen. Die Partystimmung, das Getümmel der Gebildeten, der jährliche Hype ums Lesen. Graf räumt ja auch ein: Wichtige Gespräche seien hier besser zu vereinbaren als zu führen, das Tiefsinnige, das verbiete die allgemeine Lautstärke, in der man manchmal "die eigene Stimme nicht hört". Aber Hansjörg Graf haftet die Literatur nicht nur oberflächlich an, sie war und ist Teil seines Lebens, noch heute und, wie er nicht ohne Pathos sagt, "ein Hauptquartier der Existenz".
Schon der jugendliche Graf betreute die örtliche Bücherei in Feldkirch/Vorarlberg und wagte sich selbstsicher an Buchempfehlungen, die ihn inzwischen amüsieren. Als Soldat trug er Goethes "Italienische Reise" und Shakespeares Sonette im Rucksack mit sich. Dann war Graf Lektor im Salzburger Verlag Otto Müller, später bei Piper, bei Kohlhammer und in der Nymphenburger Verlagshandlung. Er hat als "fester Freier" zwanzig Jahre für Winkler und List gearbeitet, hier zuletzt auch als Cheflektor. Er hat wissenschaftliche und literarische Reihen betreut und herausgegeben, Nachwuchsautoren entdeckt und sich mit nie ermüdender Wissbegier der Lektüre und Rezension deutschsprachiger Literatur vor allem aus Österreich und der Schweiz sowie italienischer und ungarischer Autoren hingegeben.
Mitte der Fünfzigerjahre veranstaltete er gemeinsam mit dem jungen Thomas Bernhard auf dem Forum Hohensalzburg Dichterlesungen. Bernhard riet er, sich stärker der Prosa als der Lyrik zuzuwenden. Er hat Hannah Arendt in New York besucht und den Romanisten Harald Weinrich mit dessen jüngst wieder aufgelegtem Werk "Tempus" vorgestellt. Sten Nadolnys erster Roman "Netzkarte" feierte in Grafs Reihe "Poesie und Prosa" seine Premiere, es folgten Autorinnen und Autoren wie Faschinger, Puganigg, Gahse und Zschokke. Alle fanden sie in ihm ihren zugewandten Lektor, einen Mann, der alle Zeit der Welt mitbrachte und sich manchmal fühlte wie ein "Seelendoktor", so nah konnten sich Autoren und Lektoren kommen. "Der Lektor", so Graf in einem Vortrag aus den Fünfzigerjahren, "vergisst im Gespräch mit dem Dichter, dass er ja einen Auftrag in der Tasche hat, er empfindet plötzlich eine Sympathie a priori zu all diesen nomadenhaften Wesen, eben weil er selbst Nomadenblut mit sich herumträgt."
Immer noch schreibt Graf, der sich gern einen "unverbesserlichen Selbstdarsteller" nennt, in Feuilletons und Literaturzeitschriften über Literatur, unbeirrbar, auf seiner Schreibmaschine Gabriele 25. Eine rote Reiseschreibmaschine hat er auch, für den Notfall, und noch lässt sich die Gabriele mit Farbbändern versorgen. Auch das rote ist unverzichtbar, für die Hervorhebung des Bedeutsamen oder auch: der Ironie, die ja bekanntlich, wie der Humor, "zum Wichtigsten gehört", zumal als Selbstironie, welche in schön gefeilter Form Grafs Rede durchzieht.
Es ist schon fast tapfer zu nennen, wenn einer, der so eng mit und von der Schrift lebt, sich derart gegen den Computer sträubt, mit dem E-Book und all diesen Maschinen "nichts am Hut hat", eine Haltung, die einen ja doch immer wieder ausschließt aus der schnellen Kommunikation der anderen. Aber das Buch selbst, um das hier auf der Frankfurter Buchmesse alles kreist (auch wenn ein Saal fürs Elektronische aufgemacht ist, für andere als Graf) - es hat nun mal dieses verführerisch Haptische. Der Umgang mit Büchern: Das ist schon ein intimer Vorgang, sein "Verhältnis" zum Buch, nennt es Graf und ergänzt, "die erotische Komponente des Wortes sei nicht ausgeklammert". Seine Frau pflege zu sagen: "So wie du ein Buch in die Hand nimmst und streichelst - das hab ich noch nie erfahren!"
Sicher ist er sich, auch in diesem Jahr fündig zu werden und auf Bücher zu stoßen, die er lesen und über die er schreiben möchte. Die Vielfalt des Angebots in Frankfurt sei ja enorm gewachsen, ein Vorteil, auch wenn "früher alles viel familiärer war". Die ganze Fülle passte damals noch in eine Halle, die Abende, erinnert sich Graf, verbrachte man im Kreis der Verlegerfamilien, Verlagsvertreter saßen tagsüber in den Kojen, die Sortimenter gesellten sich dazu, "man hatte sehr viel mehr Zeit". Überall, nicht nur hier: mehr Zeit für Autoren, mehr Zeit für Bücher.
Jetzt ist Graf einer der wenigen, die Zeit haben. Er fährt auf eine der Inseln, die er so liebt - die Azoren, die finnischen Schären, die Hebriden -, genießt das milde, ruhige Klima fern ab vom Massentourismus. Er reist auch gern nach Sachsen-Anhalt - auf der Straße der Romanik - und an die Ostsee. Oder hält sich in seinem österreichischen Quartier auf, wo noch die Bibliothek seines Vaters steht. Oder er bleibt zu Hause in München und liest. Stundenlang. Zeitgenössisches, ja schon, aber auch die Literatur der Vergangenheit: "Die Zeitgenossen haben ja die Modernität nicht gepachtet, sie blitzt auch in älterer Literatur immer wieder auf." Donna Leons Venedig-Krimis hat er noch nicht gelesen, aber was Hofmannsthal und Henry James über die Serenissima geschrieben haben, kennt er recht gut.
Warum der Shortlist hinterherjagen, die ja doch so viele gute Texte "durch den Rost fallen lässt", statt Wilhelm Heinse oder Rudolf Borchardt zu lesen? Dass Bücher zu "Eintagsfliegen" geworden sind, die bereits im Herbst verschwinden, wenn sie sich im Frühjahr nicht verkaufen - das muss einen Mann wie Graf bekümmern. Die Seelenlosigkeit mancher Großverlage, die zu "Warenhäusern" verkommen seien, ebenso. Aber es gibt sie ja noch, findet Graf: die kleinen, ambitionierten Verlage. Das Nischenprogramm, das sich aufgeschlossenen Verlegerpersönlichkeiten verdankt. Die Unzufriedenheit mit den Veränderungen auf dem Buchmarkt - bei Graf geht sie nicht allzu weit. Wie auch. Eine seiner drei Töchter ist ebenfalls Verlegerin geworden. "Mental auf Trab" halte ihn die Auseinandersetzung mit der "Vielfalt an ausgeprägten Charakteren" in seiner Familie. Und die Auseinandersetzungen mit sich selbst.
Die Fülle der Zeit
In einer Skizze seiner Person schreibt Graf von sich: "Wenn er ab und zu und immer häufiger die Arie ,Ich habe genug' einer bekannten Bach-Kantate mitzusingen versucht ist, will er diesen Text nicht nur einspurig verstanden wissen: also nicht nur im Sinne eines störrischen Greises, der die Nase voll hat angesichts einer Welt, die sich in Riesenschritten von ,seiner' Welt zu entfernen scheint; nein, in diesem ,Ich habe genug', einer der schönsten Barockarien überhaupt, klingt auch, weltlich interpretiert, die Fülle der Zeit an, die Hansjörg Graf erfahren und erleben durfte - eine Trost-Arie, die dem Blick zurück und auf das, was noch kommen wird, alle Schrecken nimmt."
Im kommenden Herbst möchte Graf einen Text über "Moderne Enzyklopädien" fertiggestellt haben. "Ein Blick in den Himmel", meint er, sei da immer vonnöten. "Nicht weil ich mir von dorther Hilfe erhoffe, sondern weil ich nicht weiß, wo ich dann bin." Wenn möglich, naturgemäß, auf der Frankfurter Buchmesse. Seiner zweiundfünfzigsten.
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