Schulfach "Lebenskunde": Fürs Leben lernen
Der Weg durch den Alltag ist kompliziert, die meisten sind überfordert. Durch die Finanzkrise wird das nicht besser. Das Schulfach "Lebenskunde" muss her.
Börsenmakler sind übrigens auch nur Menschen. Sie sind nämlich kaum in der Lage, logisch zu denken, wie kürzlich eine Studie der Universität Gießen herausfand. Statt rationale Entscheidungen zu treffen, lassen sich die Spekulanten von ihren Emotionen leiten.
Wirklich überraschend ist diese Erkenntnis nicht, wenn man sich das derzeitige Finanzchaos ansieht. Aber sie ist wichtig. Doch bisher finden sich solche Informationen vorwiegend auf den Finanzseiten von Tageszeitungen. Dabei gehört die Kunde vom irrationalen Börsianer ins Pflichtprogramm einer jeden Schule. Darüber hinaus müsste man die Schüler, sollen sie später keinen finanziellen Schaden erleiden, auch über Riesterverträge, die Betriebslogik von Banken oder den Begriff "Zertifikat" aufklären.
Die Schule hat das Ziel, zum mündigen Bürger zu erziehen. Aber daran scheitern offenbar selbst die Gymnasien. Denn Akademiker sind keineswegs weniger ratlos, wenn sie vor einem Bankberater sitzen, und lassen sich ebenfalls unvorteilhafte Lebensversicherungen aufschwatzen. Zugleich zeigt sich bei den privaten Insolvenzen schon seit Jahren, dass die Überschuldung nicht nur die Ärmsten trifft, sondern in allen sozialen Schichten zu finden ist.
Wie bleibe ich gesund?
Ganz offenbar brauchen sämtliche Schulen ein neues Fach, das sich der "Lebenskunde" widmet. Für einen nationalen Bildungsgipfel, wie er am Mittwoch in Dresden stattfand, wäre das ein sehr geeignetes Thema. Dabei sollte sich die "Lebenskunde" nicht nur auf die neuen Finanzprodukte beschränken. Viele wissen auch nicht, wie man sich gesund ernährt, wie man Energie im Haushalt spart und welche Rechte man als Mieter hat. Oder welche Behörde wann zuständig ist.
Auch das deutsche Steuersystem ist den meisten Deutschen ein Rätsel. Mit dem Effekt, dass viele den Eingangs- mit dem Spitzensteuersatz verwechseln und den Grenzsteuersatz gar nicht einordnen können. Viele wissen auch nicht, dass Sozialabgaben keine Steuern sind. Diese Unkenntnis ist nicht amüsant, sondern nimmt den Bürgern ihr wichtigstes demokratisches Grundrecht: Zwar dürfen sie wählen, aber die meisten Wähler wissen schlicht nicht, worüber sie eigentlich abstimmen.
Bisher geht die Politik so vor, dass sie die Komplexität der Realität noch komplexer macht - und dann die Aufklärung an Dritte delegiert. Das Paradebeispiel ist die Riesterrente, wo es geradezu abstrus zugeht. In einer Studie hat die Verbraucherzentrale in Baden-Württemberg kürzlich nachgewiesen, dass die meisten Bürger einen viel zu teuren Riestervertrag abgeschlossen haben - von dem vor allem die Banken profitieren, indem sie hohe Nebenkosten und Provisionen kassieren. Lapidare Antwort der Bundesregierung: Den Verbrauchern stünde doch "eine Vielzahl von Publikationen als Entscheidungshilfe zur Verfügung, besonders auch Veröffentlichungen von Finanztest". Richtig, es gibt Finanztest, aber das ist ja keine sehr frische Erkenntnis. Stattdessen ist es doch gerade das Problem, dass Finanztest die meisten Bürger nicht erreicht.
Manchmal ist es auch ganz putzig, wie die Politik ihre Verantwortung delegiert. So gab es die Idee, alle Lebensmittel mit einer Ampel zu kennzeichnen, damit jeder erkennen kann, was gesund ist (grün) und was schädlich (rot). Aber letztlich werden die Bürger damit infantilisiert und wird unterstellt, dass inhaltliche Aufklärung gar nicht mehr gelingen kann. Bisher ist Verbraucherschutz die Aufgabe weniger Beratungsstellen, die zudem schlecht ausgestattet sind. Natürlich sollte man sie stärker fördern - doch mindestens so effizient dürfte es sein, den Verbraucherschutz gleich in die Schule zu verlagern und dort über die Lebenswirklichkeit aufzuklären.
Wie beantrage ich ALG II?
Vor einiger Zeit sorgte es für einen Skandal, dass eine Hauptschule unterrichtete, wie man Hartz-IV-Anträge ausfüllt. Es wurde als defätistisch angesehen, dass den Jugendlichen nicht ein optimistischeres Weltbild vermittelt wurde. Dabei war der Ansatz nur konsequent: Wenn es zur Realität vieler Hauptschüler gehört, dass sie mit einem Jobcenter zu tun bekommen, dann müssen sie darauf auch vorbereitet werden.
Aber es wäre eben Hochmut, zu glauben, nur Hauptschüler brauchten eine Einweisung in den Alltag. Das Fach "Lebenskunde" würde sich rechnen, denn für die Gesellschaft ist die Finanzierung von chronischen Krankheiten, Umweltschäden oder Finanzflops teuer. Alltag ist nicht selbstverständlich, sondern längst komplizierter als jede lateinische Grammatik.
Leser*innenkommentare
michaelbolz
Gast
Und wenn es - dem stimme ich zu - die Politik ist - in Kombination mit der Wirtschaft - die die Realität komplexer macht als sie in "Wirklichkeit" ist, bleibt die Frage nach den Ursachen und der Funktion dieser "Verschleierung".
Wer leicht überfordert ist, knickt besser weg.
Ludwig Paul Häußner
Gast
Zu mehr Selbständigkeit durch selbständige Schulen
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Frau Herrmanns Ansatz kann ich im Grunde nur zustimmen. Meines Erachtens liegt das Problem aber tiefer: im neuhumanistischen Bildungsideal.
Bereits 1842 spricht Max Stirner in seiner kleinen
Schrift vom Unwahren Prinzip unserer Erziehung
oder der Humanismus und Realismus. Der
von ihm als Humanismus bezeichnete Weg will
in letzter Konsequenz Bürger für den Staat, der
als Realismus bezeichnete Weg letztlich Arbeiter
und Angestellte für die Wirtschaft. Der
Mensch als individuelle Person, als zu Selbstentwicklung
und sozialer Verantwortung fähiges
Wesen kommt auf beiden Wegen zu kurz.
Die Grenzen der Wirksamkeit des
Staates neu bestimmen?
Der Obrigkeitsstaat preußischer
Ausprägung, der totalitäre Staat
des Nationalsozialismus und der
vormundschaftliche Staat (Rolf
Henrich) der ehemaligen DDR,
alle hatten das Bildungswesen
fest in ihrer Hand und missbrauchten es für ihre
Zwecke. Doch auch in den westlichen Demokratien
ist die Grenzziehung zwischen Staat und
Bildungswesen unklar. Legislative wie auch
Exekutive der allermeisten parlamentarischen
Demokratien sehen das Bildungswesen als
staatliche Aufgabe an und auch die alten Mächte
der Kirche sind diesbezüglich in Konkordanz
– in Form der christlichen Gemeinschaftsschule.
Religion und selbstredend christliche Religion
wird amtlich zum Prüfungs- und Abiturfach.
Die bildungspolitische Praxis und die
Möglichkeiten für ein von staatlicher Bewirtschaftung
befreites Bildungswesen im Rahmen
unseres Grundgesetzes klaffen noch immer
meilenweit auseinander.
Weil sich der Staat gegenüber dem Bildungswesen
weiterhin reglementierend verhält, wird
daraus auch das Unwahre Prinzip unserer Erziehung
im Sinne Stirners ersichtlich. Kann ein
von den einzelnen Bundesländern zentral geplantes
und bewirtschaftetes Schul- und Hochschulwesen
den Verfassungsgrundsatz „Jeder
hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner
Persönlichkeit“ überhaupt institutionell gewährleisten, geschweige denn erfüllen?
Auch für das Bildungswesen gilt im Besonderen,
was für Entrepreneurship im Allgemeinen
gilt: Revolutionär denken, aber evolutionär
handeln. Hierzu der Unternehmerprofessor Götz W.
Werner in einem Interview auf die Frage:
„Was brauchen wir in Deutschland wirklich
dringend?
Seine Antwort lautet:
„Da es in Bildung und Erziehung um den Menschen
geht und damit auch um die Entwicklungsfähigkeit
des Einzelnen wie auch der Gesellschaft
als ganzer, brauchen wir Menschenerkenntnis
und Sozialerkenntnis. Eine allgemeine
Menschenkunde – gespeist aus den Wissenschaften
und der Kunst – sollte die Grundlage
der Pädagogik sein. Wir müssen Schule als etwas zu Unternehmendes denken: Schule als
pädagogisch-unternehmerische Aufgabe für das
öffentliche Gut Bildung. Deutschland braucht
selbständige Schulen – institutionell – und Educational Entrepreneurship. Gleichzeitig braucht
es finanziell die Subjektförderung. Dies ließe sich im Rahmen
der Einführung eines konsumsteuerfinanzierten
Grundeinkommens und staatlich finanzierter Bildungsgutscheine Schritt für Schritt –
also evolutionär – verwirklichen.“
So betrachtet könnte Schule als pädagogisch-unternehmerische Aufgabe aufgegriffen und
damit verwandelt werden – jenseits von staatlicher
Bevormundung und neo-utilitaristischen
Forderungen, in deren Augen Bildung nur als
Ressource für die technische und wirtschaftliche
Entwicklung gilt. Wissen wird da zum
Machtinstrument und die Kultuspolitik zwischen
Bildungsproletariat und Elitenbildung
eingezwängt. Wird die einzelne Schule aber zu einer Unternehmung (im Wortsinne),
würde Kultuspolitik zur Ordnungspolitik
und könnte für das Schul- und Hochschulwesen
neue pädagogisch-unternehmerische
Freiräume eröffnen.
Notwendigkeit für ein frei-öffentliches
Schulwesen!
An der grundlegenden Finanzierungsverantwortung
des Staates in Form des jeweiligen Bundeslandes
soll festgehalten werden, da eine gute
Ausbildung Aller im gesamtgesellschaftlichen
Interesse liegt.
Die Aufsicht über das Schulwesen liegt bei
einem Bildungsministerium, das den elementaren,
primären, sekundären und tertiären Bereich
umfasst. Große Teile des Personals des
Kultusministeriums, das mit seinen bisherigen
Kompetenzen (Rechts-, Fach- und Dienstaufsicht)
abgeschafft wird, und der Schulverwaltungen
sind schon bei Beginn der Reform
direkt an die Schulen zu verlagern, da viele
Tätigkeiten zukünftig nicht mehr zentral in
Ministerien, sondern im Einklang mit dem
Subsidiaritätsprinzip (Entscheidungskompetenz
auf der Ebene, die für die zu bewältigende
Aufgabe die höchste Problemlösungskompetenz
hat) an den Schulen ausgeführt werden.
Die inhaltliche Verantwortung, definiert in
Form von Lehrplänen beziehungsweise Bildungsstandards,
liegt nicht mehr in der Verantwortung
der Ministerialbürokratie. Die Definition
ergebnisorientierter Bildungsziele, deren
Ausgestaltung und Umsetzung, ist Aufgabe des
Lehrerkollegiums der einzelnen Schule.
Eine so gewonnene institutionelle Selbständigekeit würde sich auch auf das Wirken der LehrerInnen und das soziale Klima in einer Schule auswirken. Den selbständige Schulen mit selbstständigen LehrerInnen sind die beste Voraussetzung selbstverantwortliche und lebenstüchtige jungen Menschen zu ermöglichen: die ganze Schule würde zur Lebenskunde erziehen und ausbilden.
Ludwig Paul Häußner
Universität Karlsruhe (TH) - IEP
www.unternimm-die-schule.de
Siegfried Martini
Gast
Prima Ideen ! Kann ich alles nachvollziehen und unterschreiben ! Leider vergisst offensichtlich jeder, der neue Fächer (wie hier !) oder mehr Unterricht (in Sport, in Musik, in Naturwissenschaften, in Deutsch, in Fremdsprachen (demnächst Chinesisch)....)fordert, einmal festzulegen, welche Unterrichtsfächer dafür NICHT mehr unterrichtet werden sollen. An diese Frage traut sich keiner heran.
Einfach noch mehr Unterricht fordern, geht aber auch nicht. An meiner Schule sind die Schüler bereits Montags bis Freitags von morgens 8 Uhr bis um 16 Uhr in der Schule. Mehr geht einfach nicht!
Also: wer den Mut hat, andere Unterrichtsfächer zu fordern (dazu gehört nicht viel), muss zunächst einmal sagen, wo Unterricht wegfallen kann (das will wohlüberlegt sein).