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Kolumne Das SchlaglochIn der Bar an der Börse

Ist Karl Marx wieder aktuell? Das kommt darauf an, welchen Karl Marx man meint.

Mein Freund G. erwischte mich neulich auf dem falschen Ohr. Ich saß in einer Bar nahe der Börse und betrachtete die aufgehockte Tristesse, da stürmte er herein und schwenkte drei rote Büchlein. "Darf ich vorstellen: Der Antagonist. Eine neue Reihe - ein Band pro Jahr. Drei Büchlein erhalten Sie zum Preis von zwei. Wenn Sie die anderen zwei verkaufen, kostet Sie Ihr eigenes Exemplar keinen Heller. Unser erster Titel lautet", fuhr er fort, "Der Marxismus - Irrlicht oder ganzheitliche Theorie?"

Wer weiß, woran es lag - ob an seinem Verführungstalent, an der Stimmung oder am Umstand, daß dieses rote Deckelchen auf den vorgefundenen Topf paßte -, aber mein Freund wurde an Ort und Stelle 30 Büchlein los. Selbst mir verkaufte er einen Dreierpack, doch in meinem Fall erwies sich das Geschäft als nicht ganz so vorteilhaft - ich habe im Endeffekt für ein Exemplar den doppelten Preis bezahlt und zwei rote Staubfänger gewonnen.

Marx ist wieder aktuell, gurren die Tauben von allen öffentlichen Plätzen; die gegenwärtige Krise sei mit Hilfe von Marx zu verstehen. Im Deutschlandfunk wurde Marx als Moralist tituliert - obwohl Marx nie über Moral schrieb und alle Strömungen des Sozialismus ablehnte, die ihr Programm auf ethischen Grundlagen errichteten, sei es Gerechtigkeit, Freiheit oder Menschenrechte. Und in einer Umfrage der BBC wurde Marx vor kurzem zum größten aller Philosophen gewählt, mit 28 Prozent der 30 000 abgegebenen Stimmen.

Wenn wir Marx an seinem berühmten Diktum messen, die Aufgabe des Philosophen sei es, die Welt zu verändern, anstatt sie nur zu erklären, muß Marx zudem als der katastrophalste aller Philosophen gelten, denn die Diktaturen des Proletariats, die sich auf ihn beriefen, errichteten eine Arbeiter- und Bauernhölle, die sich von Ostberlin bis Wladiwostok erstreckte. Aber Marx sei dafür nicht verantwortlich, wird einem oft gesagt, weswegen mein Freund und ich, in der Bar an der Börse, Marx ganz altmodisch als Erklärer der Welt betrachteten.

Sein Mehrwert zur Welterklärung bestand darin, die hegelianische Dialektik vom Kopf auf die Füße zu stellen (sozusagen ein falsch aufgehängtes Bild richtig hinzudrehen). Die Dialektik des absoluten Geistes (der laut Hegel seine letzte Verkörperung in der absoluten preußischen Monarchie gefunden hat!) wurde von Marx auf die materielle Welt angewandt - daraus entstand der dialektische Materialismus, kurz Diamat -, sowie auf die gesellschaftlichen Realitäten, den sogenannten historischen Materialismus. Gemäß einem von drei zentralen Gesetzen führe die quantitative Aufhäufung zur qualitativen Veränderung, was im ideellen Sinne stimmen mag (etwa bei Liebeserklärungen). Ob allerdings ein Berg von Scheiße qualitativ etwas anderes ist als ein Häufchen Scheiße, soll der Leser entscheiden. Die Anwendung eines anderen hegelianischen Gesetzes auf die Politökonomie - jenes von der Negation der Negation, die eine Rückkehr zu einer konkreteren, entwickelteren Allgemeinheit ermögliche - erbrachte den wissenschaftlichen Beweis für das Ende des Kapitalismus. So hieß es früher. Doch heute wissen wir alle, daß Marx uns diesen Beweis schuldig geblieben ist.

Ich lud meinen Freund zu einem Bier ein. "Wann verändert sich ein System?", fragte er. "Keine sozial-ökonomische Einheit tritt von der Szene ab", antwortete ich in den Worten des größten aller Philosophen, "bevor sie nicht alle ihre Möglichkeiten entwickelt ha". "Willst du mich zum Narren halten?", rief er dazwischen, "das kenn ich, das stammt aus der Kritik der Politischen Ökonomie". "Recht hast du, und im ersten Vorwort zum Kapital behauptet Marx, England sei reif für die Revolution, die Wurzeln könne man geradezu mit der Hand fassen". "Schlechte Metapher", gab mein Freund zu. "Ja, aber das geschah nicht, und so mußte die Wissenschaft sich den Realitäten anpassen, weswegen Marx in seinem Vorwort zur russischen Ausgabe des Kapitals, keine 15 Jahre später, behauptet, die proletarische Revolution könne durchaus in Rußland stattfinden, in entwickelteren Ländern wie Holland, England oder den USA aber werde die Revolution friedlich erfolgen, auf parlamentarischem Weg".

"Was den Sozialdemokraten ihren Marx rettete", unterbrach mich mein Freund. "Und wie ist es um die Frage nach der Macht bestellt, um die Zukunft des Staates? Zeichnet Marx nicht einen anderen Weg als jenen der Diktatur vor?" "Jede Menge Wege, das ist ja das Problem. Im Kommunistischen Manifest behauptete Marx, Ziel sei die Eroberung der bürgerlichen Demokratie, worauf die Verstaatlichung der Wirtschaft und die organische Transformierung in einen sozialistischen Staat folgten. Engels, der einen guten Riecher hatte, schränkte ein: Nicht jede Verstaatlichung sei Sozialismus, denn sonst müßten Napoleon III. und Bismarck, die für Kriegszwecke große Teile der Wirtschaft verstaatlichten, als Vorläufer des Sozialismus gelten - so wie Kaiser Wilhelm III., der bekanntlich die Bordelle verstaatlichte.

1851 erwähnt Marx zum ersten Mal die Diktatur des Proletariats, eine Formulierung, die er von Louis Blanc und anderen früheren Sozialisten übernahm. Doch 1870/71 entstand die Pariser Kommune, und Marx mußte wenden: das Proletariat könne nicht den alten bürgerlichen Staatsapparat für seine Ziele nutzen. Diese Maschine müsse zerbrochen und an ihrer Stelle ein eigenes Gebilde erschaffen werden, dessen Form die Kommune sei (denn die Kommune hatte Polizei, Armee und Justiz abgeschafft und an ihre Stelle kommunale Strukturen eingeführt, die nichts mit einem Staat gemein hatten)." "Das wußte ich nicht, räumte mein Freund ein, was schließt Du daraus?" "Daß der größte aller Philosophen für einen kurzen Sommer der Wahrheit recht nahe war. Doch bald nach der Zerschlagung der Pariser Kommune kehrte Marx zu der parlamentarischen Idee zurück. Er gab zu, der Einfluß der Anarchisten hätte ihn zu solch einer falschen Kurskorrektur gezwungen."

"Es gibt viele Marxens", bemerkte mein Freund, "da findet man allerhand Anregungen". "Nun", antwortete ich, "es gibt im Marxismus mehr Strömungen als Flüsse". "Du übertreibst" - mein Freund G. stand schon, er mußte weiter in die nächste flüssige Verkaufsstelle. "Das Panorama reicht von den Anarchomarxisten bis zu den Nationalsozialisten, dessen Führer sich damit brüstete, er habe die Ideen von Marx verwirklicht - siehe "Gespräche mit Hitler" von Hermann Rauschning". "Also ist Marx für dich ein Irrlicht?" "Nicht nur. In seinem kapitalen Werk schreibt Marx, der Kapitalismus werde in Schlamm und Blut geboren. Der marxistische Pfad hat sich als schlammigster und blutigster Umweg zum Kapitalismus erwiesen". "Und was folgt daraus?" "Daß es höchste Zeit wäre, einen wirklichen Ausweg aus der Unmenschlichkeit des Kapitalismus zu suchen".

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2 Kommentare

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  • HH
    Hans-Hermann Hirschelmann

    "Die (...) Negation der Negation, die eine Rückkehr zu einer konkreteren, entwickelteren Allgemeinheit ermögliche - erbrachte den wissenschaftlichen Beweis für das Ende des Kapitalismus. So hieß es früher. Doch heute wissen wir alle, daß Marx uns diesen Beweis schuldig geblieben ist."

     

    Frag mich allerdings, wie eine "Rückkehr" (?) "zu einer konkreteren, entwickelteren Allgemeinheit" überhaupt bewiesen werden kann.

     

    Eine marxsche Intention, nach einem Pfad zu irgendeiner "Allgemeinheit" zu suchen, kann ich überhaupt nirgends sehen. Geht doch eher um Verallgemeinerung der Möglichkeit und Kompetenz zur Entwicklung und Anwendung des menschlichen (und von Menschen beeinflussten) Produktivvermögens nach gemeinsam bestimmten (und in so fern rationalen) Zwecken - bei bewusster Reflexion von (abzusehenden, wahrscheinlichen oder möglichen) Nebenwirkungen.

     

    Dass es mit dieser Verallgemeinerung nicht weit her bzw. diese nicht weit genug entwickelt ist, um die großen Menschheitsprobleme zu lösen, braucht nicht erst "wissenschaftlich" bewiesen zu werden. Interessanter ist zu sehen, wo diese Verallgemeinerung notwendig wird, was in der Richtung geschieht und was noch (bis wann) zu tun ist.

  • RK
    Rüdiger Kalupner

    Der letzte Satz sollte alle taz-Leser anregen, sich auf die Suche nach dem evolutionsprozess-logischen Exodusansatz zu machen, der anschluß- und übergangsfähig an die aktuelle Krise des Industriesystems ist und zugleich die europäische Gesellschaftsutopie einer machtsystemfreien Gesellschaft allseits sich entwickelnder Menschen fortsetzt. Wo im Web ist ein Text veröffentlicht, der über das Evolutionsprojekt in die folgende post-kapitalistische Weltordnung des weltindustriellen Fortschrittsprozesses informiert?

    Dann sucht 'mal schön.