Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet

LARS PENNING

Fantasy kann vieles sein: Vom Entwurf ganzer Parallelwelten wie in „Herr der Ringe“ bis zu geringfügigen Verschiebungen der Realität. In Benh Zeitlins „Beasts of the Southern Wild“ besteht das Fantasy-Element eigentlich nur in den schnaubenden Urviechern, die sich – vom Schmelzwasser der Pole freigesetzt – über die Erde ausbreiten und das nahende Ende der Welt ankündigen. Doch das ist in Süd-Louisiana sowieso längst da, denn die Helden des Films leben in einer „Bathtub“ genannten Gegend, die permanent bedroht ist von Stürmen, Überflutungen und Umweltkatastrophen. Die Menschen dort leiden unter Krankheiten und Alkoholismus und saufen in ihrer „Badewanne“ gerade zu ab: Ein Damm trennt sie von der Zivilisation. Eigentlich weiß man nicht einmal so genau, auf wen sich der Filmtitel eigentlich bezieht: auf die Urviecher oder auf die Bathtub-Bewohner. Doch der Film zeigt die kleine Gemeinschaft auch als eine Kultur der Solidarität, in der ungezähmter Lebenswille und Menschlichkeit Triumphe feiern. Hauptfigur ist die sechsjährige Hushpuppy, aus deren Augen die Geschichte erzählt wird: Sie trotzt den schwierigsten Problemen und wird am Ende auch den Urviechern Einhalt gebieten. Und so beschreibt diese Parabel, wie einerseits der Staat Teile seiner Bevölkerung einfach abschreibt, und andererseits genau diese Leute mit dem Staat aber auch gar nichts zu tun haben wollen: ein faszinierendes US-Phänomen, das für uns nur schwer begreiflich ist. (7. 2.–13. 2. Babylon Kreuzberg, Hackesche Höfe, Intimes; 8. 2.–10. 2., 13. 2. Sputnik)

Einer der fantasievollsten Filme des letzten Jahres ist Leos Carax’ „Holy Motors“, der sich als ein selbstreflexives Spiel in der Verquickung von Träumen und deren Wahrnehmung präsentiert: Gleich zu Beginn sieht man ein andächtiges Kinopublikum, dann den Regisseur selbst im Pyjama, eine Tür führt aus seinem Schlafzimmer direkt ins Kino. Protagonist von Carax’ Träumen ist der wandlungsfähige Denis Lavant, der in „Holy Motors“ Monsieur Oscar verkörpert, einen Mann, der niemals er selbst zu sein scheint: Für mysteriöse Auftraggeber verkörpert er verschiedenste Rollen, seine Chauffeurin Céline (Edith Scob) fährt ihn dafür in einer Stretchlimousine von einem Auftrag zum nächsten. Oscar ist Banker, Mörder oder Familienvater, und als Monsieur Merde – eine extremanimalische Variation des Mr. Hyde – entwirft er im Abwasserkanal auch mal Burka-Couture für Eva Mendes. Im Lauf des Tages scheint er sich immer häufiger selbst zu begegnen. Und so erinnern nicht nur die Besetzung von Edith Scob und eine direkte kleine Hommage an „Augen ohne Gesicht“ an die Filme von Georges Franju, den großen französischen Horror-Surrealisten des Alltags. ((OmU) 8. 2. Eiszeit 2)