Krankheit braucht Gesellschaft

DDR In Lothar Warnekes DEFA-Produktion „Die Beunruhigung“ wird die Krebserkrankung der Protagonistin zum Indikator des Sozialen

Der Film ist keine sauertöpfische Zivilisationskritik, sondern genaue Beobachtung, zurückhaltendes Arrangement

VON MATTHIAS DELL

Es ist 1982, und die DDR hat Krebs. Das heißt, sie könnte Krebs haben. Von dieser unangenehmen Unsicherheit spricht der Titel von Lothar Warnekes Film „Die Beunruhigung“. Die DDR ist Anfang der achtziger Jahre in ihren Dreißigern und eine Frau, die aussieht wie Christine Schorn. Eine glücklich geschiedene Eheberaterin, Inge, die einen pubertierenden Mike hat (wie ein junger Mark Wahlberg: Mike Lepke) und ein Verhältnis mit einem verheirateten Joachim (Wilfried Pucher).

Und die dann an einem Tag im Jahr einen Termin bekommt für einen Eingriff, um den Knoten unter der Brust genauer zu untersuchen. Das schlägt Warnekes Film aufs Gemüt, wo doch die Unabhängigkeit, die Freiheit, mit der Inge am Morgen beim Frühstück im Bett noch geturtelt hatte, im Alltag schon mickrig aussah: Die Klienten in der Beratung würden besser getrennt weiterleben, und die Freunde von einst wie Dieter (Hermann Beyer) tun das schon. Man neigt dazu, Filme über nicht unproblematische Vergangenheiten wie die DDR gesellschaftspsychosomatisch zu betrachten: dass alles, was die Protagonisten dort betrifft, den repressiven Staat meint, in dem sie leben. Und dann kriegte Inge ihre Diagnose, weil die Hoffnungen aufs Besserwerden dieser DDR Anfang der Achtziger untergraben sind von erschöpfter Desillusion.

Das ist so legitim, dass man sich fragt, warum umgekehrt nicht öfter derart auf Filme von heute geschaut wird; so könnte man fragen, ob die Alzheimererkrankung der westdeutschen linksliberalen Mutter in David Sievekings gerade angelaufenem Dokumentarfilm „Vergiss mein nicht“ nicht eine Metapher ist für eine ausgebremste Biografie einer Frau, die gesellschaftlich vergessen werden kann, weil sie allen Versprechen und theoretischer Grundlegung zum Trotz über die Praxis der Professorenhausfrau nicht hinausgekommen ist. Oder man fragt sich, warum das Milan-Peschel/Steffi-Kühnert-Paar am Anfang von Andreas Dresens Krebsfilm „Halt auf freier Strecke“ den erschütternden Befund so ruhig aufnimmt, während Christine Schorns Inge dreißig Jahre früher ausflippt, den Boden unter den Füßen verliert.

Warum sie das tut, ist die interessante Frage an Warnekes Film, und die Antwort sagt einem mehr über die gesamtdeutsche Gesellschaft als über das politische System DDR. Die Krankheit ist bei Warneke, dem leisen Realisten des DEFA-Spielfilms, ein Indikator des Sozialen: Wer Krebs hat, kann nicht allein sein, weil er ja Hilfe braucht.

So macht die ärztliche Diagnose Inges Unverbindlichkeit einen Strich durch die Rechnung, erinnert der Notfall die Frau daran, dass sie sich selbst nicht genügen wird. „Die Beunruhigung“ ist ein Film, der dem Menschen die Gesellschaft der anderen nahelegt. Der Hedonismus der Nachkriegsgenerationen hat sich 1982 auch in die DDR verlaufen. Auch wenn er dort in der Realität konsumistisch nicht so ohne Weiteres bearbeitet werden kann – für Frustkäufe von Nachthemden und Sekt nach dem Arztbesuch reicht das Angebot in Warnekes Film locker. Und die Fernsehbildschirme flimmern als Zeichen der kommunikativen Vereinsamung, die die Distanz zu den anderen wachsen lässt: Als Inge bei ihrem alten Freund Dieter klingelt, lädt dessen Großfamiliennachbarin sie ein, beim Abendessen auf ihn zu warten – was Inge schnell zu viel wird, sie zieht das Treppenhaus vor.

Lothar Warneke, 2005 gestorben, ist häufig als Moralist bezeichnet worden, aber die Moral geht in der „Beunruhigung“ auf Strümpfen. Der Film ist keine sauertöpfische Zivilisationskritik, sondern genaue Beobachtung, zurückhaltendes Arrangement. Warnekes Stil eines dokumentarischen Erzählens ist heute ästhetisch anschlussfähig; er bewirkt in diesem, dem bekanntesten Film des Regisseurs eine reizvolle Verbindung von Fiktion und Wirklichkeit, von Schorns Freiheiten im Spiel mit echten Ärzten, Pförtnern und Kollegen (wie Cox Habbema). Und vernachlässigt darüber die Fantasie nicht: In der poetischsten Szene sitzt Inge im Nachthemd in der Badewanne als Kapitänin ihrer Träume.

■ „Die Beunruhigung“: 7.–10.2./ 12./13. 2. um 18 Uhr, 11. 2. um 20 Uhr im BrotfabrikKino