Früchte des Zorns

PROTEST Der jahrelange Kampf der Bahnhofsgegner könnte siegreich enden. Vorerst demonstrieren sie aber weiter

VON NADINE MICHEL
UND SEBASTIAN ERB

STUTTGART/BERLIN taz | Als es um das große Ganze geht, um das mögliche Aus von Stuttgart 21, macht sich ein entspannter Gangolf Stocker Gedanken über einzelne Gleise. „Was mir Sorgen macht, ist das Gleis 8“, sagt er. „Und die Seitenflügel, die kriegen wir auch nicht so schnell wieder hochgezogen.“

Es ist der Tag, an dem aus dem Bundesverkehrsministerium ein internes Papier an die Öffentlichkeit gelangt, das davon zeugt, wie sehr die Experten des Ministeriums an dem Großprojekt zweifeln.

Stuttgart 21 bestimmt wieder die bundesweiten Schlagzeilen. Doch für Gangolf Stocker kam es nicht überraschend, dass das milliardenschwere Prestigeobjekt ins Wanken gerät: „Das war nur eine Frage der Zeit“, sagt der Mann, der jahrelang auf das Ende von S 21 hingearbeitet hat. Der 68-jährige Kunstmaler gilt als Vater der Protestbewegung. Von der ersten Stunde an hat er die Montagsdemonstrationen organisiert, sorgte dafür, dass die Bevölkerung mit Gegeninformationen zum Bauprojekt versorgt wurde, und war immer in den vorderen Reihen dabei.

Vieles deutet nun darauf hin, dass die Arbeit der Bewegung Früchte trägt. Und zwar noch mehr als ihr Verdienst, nach fast 60 Jahren einen Machtwechsel in Baden-Württemberg befördert und dafür gesorgt zu haben, dass Bürgerbeteiligung in der Bundesrepublik ernster genommen wird: Stuttgart 21 könnte kurz vor dem Ende stehen.

Auch Gerhard Pfeifer protestierte von Anfang an gegen Stuttgart 21. Seit Anfang der 1990er Jahre arbeitet er hauptamtlich für den Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) in Stuttgart. Um das Jahr 2000 herum, sagt er, hätten sie gedacht, das Projekt stirbt noch vor dem Planfeststellungsverfahren aus finanziellen Gründen. Aber die Politik hielt daran fest, und aus den fachlichen Einwänden von Umweltverbänden wurde mit dem städtischen Bürgerbegehren 2007 eine bürgerliche Protestbewegung.

„Vielleicht hätten wir früher lauter sein sollen“, sagt Pfeifer heute. Aber die Mobilisierung sei schwierig gewesen, denn es habe ja keiner so wirklich an den Bau geglaubt.

Spätestens im Sommer 2010 änderte sich das. Die Mächtigen im Land bekamen nun die Mobilisierungskraft der Gegner zu spüren. „Von da an war es wichtig, die Sache stets am Kochen zu halten“, sagt Matthias von Herrmann, Sprecher der Parkschützer, die jahrelang vor allem gegen die Abholzung von Bäumen im Stuttgarter Schlosspark kämpften und von denen sich einige vor gut einem Jahr sogar an Bäume gekettet hatten, damit die nicht gefällt werden.

Oder mit neuen Informationen, die als Argumente gebraucht werden konnten. Oder mit Aktionen, die auch die überregionalen Medien interessieren. Die berichteten dann auch ausführlich. Und als dann die Stuttgarter Polizei Ende September 2010 Wasserwerfer gegen Demonstranten einsetzten und einige von ihnen dabei schwer verletzt wurden, gingen die Bilder aus Stuttgart um die Welt.

Welchen Anteil hat die Bewegung daran, dass Stuttgart 21 nun wankt? Den Erfolg von Bürgerprotest zu messen, sei grundsätzlich schwierig, sagt der Protestforscher Simon Teune vom Wissenschaftszentrum Berlin. Aber in diesem Fall ist er sich sicher: „Kommt es zum Aus von Stuttgart 21, hat die Protestbewegung einen wesentlichen Anteil daran.“ Denn die Bahnhofsgegner hätten die Defizite des Projekts öffentlich gemacht und die PR-Darstellungen infrage gestellt.

Der Politikwissenschaftler Felix Butzlaff vom Institut für Demokratieforschung in Göttingen betont das Wechselspiel zwischen der Veröffentlichung neuer Fakten und einer Massenmobilisierung. Inhaltlich gearbeitet haben die Bahnhofsgegner von Anfang an. Erst aber, als der Baubeginn näher rückte, gingen die Leute vermehrt auf die Straße. Was dazu führte, dass noch mehr Bürger von den Problemen rund um das Projekt erfuhren und sich dem Protest anschlossen. Entscheidend sei, so Butzlaff, dass die Aktivisten nicht nur einfach gegen das Bauprojekt protestieren, sondern eigene Alternativvorschläge machen.

„Das ist jetzt der Lohn für unsere Geduld“, sagt auch Stocker. Ein Aufflammen der Bewegung angesichts der neuen Schlagzeilen hält er zwar nicht für möglich. „Aber es gibt auch keine Notwendigkeit mehr. Jeder sieht, dass das Projekt ohnehin am Ende ist.“

Doch solange das Ende nicht Wirklichkeit geworden ist, macht der Kern der Aktivisten weiter. Ihre wöchentliche Demonstration, zu der immer noch um die 2.000 Leute kommen, halten sie weiter ab. Am Montag zum 160. Mal.

Gangolf Stocker ist nur noch manchmal dabei. Nach der Landtagswahl im Frühjahr 2010 zog er sich aus dem Rampenlicht zurück. Im Hintergrund aber arbeitete er weiter, recherchiert auch heute Informationen über das Projekt und denkt dabei vor allem an die Zeit nach Stuttgart 21. „Jetzt kommen schöne Zeiten“, sagt er. „Jetzt überlegen wir, was wir alternativ machen können.“