30 Jahre Reformpolitik in China: Vier von fünf Modernisierungen

Vor genau 30 Jahren begann in China die Politik der Reform und Öffnung. Die damals in Armut und Apathie erstarrte Volksrepublik kam so zu neuer Stärke. Ein persönlicher Blick zurück.

Posieren mit großen Reformer: ein chinesisches Paar vor Deng Xiaoping-Poster. Bild: dpa

Hinter einem Liliengesteck beschwört Hu Jintao in Pekings Großer Halle des Volkes ein historisches Ereignis: Das "große Erwachen der chinesischen Kommunisten", mit dem Chinas moderne Ära vor drei Jahrzehnten begann. Das Fernsehen verbreitet die Rede des Staats- und Parteichefs ins ganze Land. Hus Auftritt am Donnerstag ist der Höhepunkt wochenlanger Feiern.

1978 ist Mao seit zwei Jahren tot. In jenem Dezember wohne ich als Studentin im Pekinger Spracheninstitut, eine gute Fahrradstunde vom Zentrum entfernt. Der Rauch der Kohleöfen kriecht durch die grauen Gassen. Die Vitrinen der Staatsläden sind verstaubt. Private Geschäfte und Restaurants gibt es nicht. Nudeln und Reis sind rationiert. Frisch verheiratete chinesische Paare erhalten einen neuen Schrank - gegen Vorlage des Trauscheins, der nur mit Zustimmung der Arbeitseinheit zu bekommen ist.

Seit dem 18. Dezember versammeln sich in der Großen Halle des Volkes am Tiananmen-Platz die Delegierten des KP-Zentralkomitees in ihren Mao-Anzügen. Fünf Tage lang suchen sie nach einem Ausweg aus der Misere ihres in Armut und Apathie erstarrten Landes. Als starker - wenn auch parteiintern angefeindeter - Mann tritt Maos Wegbegleiter und Rivale Deng Xiaoping auf. Die KP müsse die ideologischen Kämpfe hinter sich lassen und sich auf die Wirtschaft konzentrieren, damit die Bauern mehr ernten und die Fabriken mehr produzieren können, fordert er. "Die Gedanken befreien" und "Die Wahrheit in den Tatsachen suchen" heißen die Zauberworte auf den Titelseiten der Zeitungen. Wie alle rätsele auch ich, was damit gemeint sein könnte.

Einige unserer Dozenten sind gerade erst aus Arbeitslagern befreit worden. Sie finden sich nun neben Kollegen wieder, von denen sie unter Mao als "Konterrevolutionär" oder "Schwanz des Kapitalismus" beschimpft worden sind. Jetzt müssen sie so tun, als sei nichts gewesen.

Meine Kommilitonen interessieren sich kaum für die trockenen Berichte über das Parteitreffen. Wir fahren lieber zur "Mauer der Demokratie" etwas weiter westlich. Dort versammeln sich täglich schweigend Menschen, zunächst nur ein paar Dutzend, bald Hunderte. Sie schreiben sich Essays und Aufrufe von der Wand ab. Darin geht es um von Maos Kampagnen zerstörte Familien, um Hunger und korrupte Kader. Zeugnisse der Ohnmacht in einem System, in dem Gesetze nichts gelten, Politik den letzten Winkel des privaten Lebens bestimmt und die Parteimacht der einzige Weg zu Wohlstand ist.

Zu den Autoren zählt der frühere Rotgardist und Elektriker Wei Jingsheng, der als "Fünfte Modernisierung" die Demokratie fordert. Damit reagiert er auf die von Deng Xiaoping verkündeten "Vier Modernisierungen" von Landwirtschaft, Industrie, Militär und Wissenschaft. 30 Jahre später ist die "Mauer der Demokratie" einem großen Platz gewichen. Im offiziellen Gedenken kommt sie nicht vor. Wei saß für seine Kritik an Deng Jahre im Gefängnis und lebt nun - wie viele meiner früheren chinesischen Mitstudenten - im Ausland.

Heute muss niemand mehr für eine Heirat um Erlaubnis fragen. Über 300.000 Dollarmillionäre leben heute in China. Selbst in unbekannten Städte gibt es mehr Wolkenkratzer als in europäischen Metropolen. KP-Chef Hu und die Partei, mit 74 Millionen Mitgliedern heute die größte Geheimgesellschaft der Welt, preisen die Verbesserungen im Leben der Chinesen. Gleichzeitig lässt Hu wie seine Vorgänger die Geschichte ständig umschreiben. Chinas Schulbücher verleugnen alles, was nicht ins Bild passt. Der KP, so die offizielle Lesart, sei Chinas rasanter Wirtschaftserfolg zu verdanken, sie sei der Garant der neuen Stärke. Denn sie habe hunderte Millionen "aus der Armut befreit". Nur - so war es nicht. Erst als die KP aufhörte, den Chinesen vorzuschreiben, was sie zu produzieren hatten, konnten sie sich aus der Armut befreiten.

Vielen gehen die Reformen nicht weit genug, sie wollen politische Rechte und Gerechtigkeit. Dazu gehören kluge Menschen wie der gerade inhaftierte Autor Liu Xiaobo, der nichts anderes fordert als eine offene und friedliche Debatte über die Zukunft Chinas und der die Erinnerung an die Vergangenheit wachhält.

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