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Debatte Kapitalismus in der KriseMutter aller verrückten Formen

Kommentar von Rudolf Walther

Die Lektüre von Marx hilft, die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise zu verstehen. Wer aber auf den Zusammenbruch des Kapitalismus hofft, hat ihn falsch verstanden.

H ausdurchsuchungen bei der Hypo Real Estate und bei Siemens, der Zusammenbruch der Lehman-Bank in den USA oder das gigantische Betrugsmanöver von Bernard Madoff, der seine Anleger weltweit um rund 50 Milliarden Dollar prellte: Ist der Kapitalismus dabei, sich selbst zu zerlegen? Zugleich mehren sich die Indizien für eine Marx-Renaissance. Der Verleger des "Kapitals" freut sich über eine wachsende Nachfrage, weil an den Universitäten wieder Marx-Seminare angeboten werden. Alexander Kluge drehte einen neunstündigen Film über "Das Kapital'", während die Theatergruppe Rimini Protokoll erfolgreich mit der Performance "Karl Marx: Das Kapital, Erster Band " durchs Land zieht.

Aber was kann Marx zum Verständnis der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise beitragen? Seine Theorien lichten den Nebel, den die neoliberale Dogmatik verbreitet; sie enthüllen das öde Gerede der Hans-Olaf Henkel oder Hans-Werner Sinn als Interessentenprosa. Dass Geld und Kapital nicht nur das sind, was man in der Tasche oder auf dem Konto hat, sondern ein "Gesellschaftsverhältnis" konstituieren, ist trivial. Geld und Kapital stellen - so Marx - "eine bestimmte Beziehung der Individuen zueinander" her: Verkäufer/Konsument, Arbeitskraftverkäufer/-käufer, Arbeitender/Unternehmender.

Nicht so trivial, aber eher verschleiernd als aufklärend ist der zurzeit beliebte Slogan, die Krise im Kredit- und Finanzwesen "schlage auf die Realwirtschaft durch" - so, als hätte man es beim Kredit- und Finanzwesen mit Irrealem und Fiktivem zu tun. Das ist nicht falsch, aber was heißt das? Über den Zusammenhang von Kredit und Krise und über die Natur des Kredit- und Finanzwesens liefert Marx präzise Antworten: "Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsbeschränkung der Gesellschaft ihre Grenze bilde." Das gilt für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen.

Und wie stellt sich das dar auf den Märkten für "Finanzprodukte", die nach der Deregulierung und Flexibilisierung der Finanzmärkte ein Vielfaches des Umfangs des weltweiten Marktes für Güter und Dienstleistungen ausmachen? Den Umfang kennt niemand genau. "Finanzprodukte", also Eigentumstitel aller Art, von der First-Class-Aktie bis zu den dubiosesten Derivaten und Zertifikaten, sind nach Marx "papierene Duplikate des wirklichen Kapitals" oder "nominelle Repräsentanten nicht existierender Kapitale" - so, wie der papierene Frachtbrief eine wirkliche Maschine eben nur repräsentiert, aber nicht verdoppelt.

Werden die "papierenen Duplikate" handelbar, kriegt das wirklich existierende Kapital eine numinose, quasitheologisch verbürgte Zweitexistenz als Börsenkurs. Aber "der Marktwert dieser Papiere ist zum Teil spekulativ, da er nicht durch eine wirkliche Einnahme, sondern durch die erwartete bestimmt ist". Auf dem Markt für Papiere an der Börse wird nach Marx ",Gewinnen und Verlieren' der Natur der Sache nach mehr und mehr Resultat des Spiels". Dieses Hasard-Spiel mit realexistierenden Fiktionen ist, wie es in einer hinreißenden Formulierung bei Marx heißt, "überhaupt die Mutter aller verrückten Formen."

"Verrückt" ist wörtlich zu verstehen. Mit dem "improvisierten Reichtum" der "papierenen Duplikate" sollen die Schranken der realen Produktion von Gütern und Dienstleistungen - diese Schranken bilden die Zahl und die Kaufkraft der Käufer/Konsumenten - überwunden werden. Autos kaufen eben keine Autos, was man den Autohalden ansieht. Und diese verbrauchen kein Benzin, was man an fallenden Preisen ablesen kann. Geld und Kapital dagegen kennen keine Grenzen, sondern nur die möglichst profitable Verwertung, also die spekulative Selbstverwertung. "Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos." Wie maßlos, erweist sich nun an den täglich neu entdeckten Milliardenlöchern, die entstanden sind, weil die Bewegung der Selbstverwertung ins Stocken kam.

Nach Marx scheinen Geld und Kapital zum "automatischen Subjekt" ihrer Vermehrung und Verwertung zu werden. Diese und andere Formulierungen sowie das Kapitel über den "tendenziellen Fall der Profitrate" im dritten Band des "Kapitals" beförderten eine Lesart von Marx, die davon ausging, der Kapitalismus breche an seinen inneren Widersprüchen dereinst automatisch zusammen. Adorno hielt es noch Ende der 60er-Jahre für eine "vernünftige Frage", ob, "wie Marx lehrte, die kapitalistische Gesellschaft durch ihre eigene Dynamik zu ihrem Zusammenbruch getrieben wird".

Heute trifft man Linke, die munter das Glas heben und sich gegenseitig "ein gutes neues Jahr Finanzkrise" wünschen. Marx allerdings verstand die Rede vom "automatischen Subjekt" kritisch, als realen Schein. Nur wenn man den kritischen Begriff ins Affirmative dreht, kann man auf einen automatischen Zusammenbruch des Kapitalismus wegen sinkender Profite oder allgemeiner Überproduktion setzen.

Solche Hoffnungen auf die Selbstzerstörung des Kapitalismus sind schon älteren Datums. Der Sozialdemokrat Eduard Bernstein (1850-1932) unterstellte Marx 1899 eine ausformulierte Zusammenbruchstheorie. Karl Kautsky (1854-1938), der maßgebliche Theoretiker der SPD im Kaiserreich, widersprach dem halbwegs. Gleichzeitig begründete er auf Zusammenbruchserwartungen die politische Strategie des "revolutionären Attentismus" (Dieter Groh). Kautsky vertrat die These, die "naturwüchsige Entwicklung des Kapitalismus" führe zwangsläufig zum Sozialismus. In diesem Sinne sprach er von der SPD als einer "revolutionären, aber keine Revolutionen machenden Partei."

Auf die politische Praxis der SPD im Kaiserreich hatte diese Strategie eine verheerende Wirkung. Politische Spielräume, zum Beispiel die Zusammenarbeit mit den Linksliberalen zur Demokratisierung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen, wurden nicht genutzt. Die SPD konzentrierte sich darauf, das sich vermeintlich "naturwüchsig" einstellende Fernziel abzuwarten. Kautsky machte aus der "kapitalistischen Entwicklung" quasi ein Naturgesetz. Das lief auf eine ökonomistisch drapierte Entpolitisierung hinaus. Man spricht deshalb vom politischen Defizit der Vorkriegssozialdemokratie.

Um ein politisches Defizit geht es auch heute. Die Lage ist paradox: Der Kapitalismus steckt in einer tiefen Krise, aber die antikapitalistische Bewegung ist klein und zersplittert. Die Schlaumeier hoffen darauf, die Dynamik der Krise führe wenn nicht zum Kollaps des Kapitalismus, so doch automatisch zur seine Bändigung. Doch gefragt sind jetzt tragfähige Strategien für einen Systemwechsel - oder wenigstens radikale Reformen.

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1 Kommentar

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  • H
    hto

    Zitat Rudolf Walther: "Doch gefragt sind jetzt tragfähige Strategien für einen Systemwechsel - oder wenigstens radikale Reformen."

     

    Da haben sie soviel Platz zum (Be-)Schreiben dieses Systemwechsels / dieser radikalen Reformen bekommen, und am Ende erscheint dann doch nur das zynisch-technokratisch-zeitgeistliche Wesen, welches mit Grund allen Übels / aller Symptomatik des "freiheitlichen" Wettbewerbs ist - "Demokratieverständnis", von konfus-gebildeter Suppenkaspermentalität in stumpf- wie wahnsinniger Sündenbock- und Entertainmentsuche, zur leichtfertig-gewohnten Verantwortungsübertragung durch Kreuzchen auf dem Blankoscheck, wo visionäre Kommunikation zur kompromisslos-eindeutigen Wahrheit nötig wäre, um die schizophrene Wirklichkeit von systemrational-gepflegten Neurosen und Psychosen zu durchbrechen.