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Dosensuppen-Allergie oder Chinarestaurant-SyndromDer eingebildete Kranke

Es ist sein sehr deutsches Phänomen: das Kranksein. Ob Depressionen, Diabetes oder Kieferschmerzen - jeder der will, findet das passende Leiden für sich.

Rund 38 Millionen Patienten wurden im vergangenen Jahr in Deutschland stationär behandelt. Bild: dpa

In keinem anderen europäischem Land legen sich die Bürger so oft in ein Krankenhausbett wie in Deutschland. Im vergangen Jahr wurden 38 Millionen Patienten stationär behandelt - gut ein Drittel davon waren Operationen. Der große Rest Therapien und Diagnosen aller Art. Auch bei den jährlichen Arztbesuchen nimmt Deutschland einen Spitzenplatz ein. Rein statistisch setzt sich jeder Deutsche 18 mal pro Jahr ins Behandlungszimmer und lässt sich Rezepte für 12-13 Pillenpackungen ausstellen. Dem Journalisten und Autor Jörg Blech ("Heillose Medizin") zufolge liegt der pro Kopf-Verbrauch an Medikamenten heute zwanzigmal höher als 1950.

Ein sehr deutsches Phänomen ist die Pillensammlung. Patienten, die von ihrem Arzt ohne Rezept nach Hause geschickt werden, fühlen sich nicht ernst genommen. Also suchen sie sich einen anderen Doktor, der ihr gravierendes Leiden auf dem Rezeptblock mit einer Klinikpackung bestätigt. Die wandert dann in den heimischen Pillenschrank - falls noch ein Plätzchen frei ist - und bleibt dort bis zum nächsten Umzug. Im Zweifelsfall für immer.

Ist Deutschland eine Ansammlung von Hypochondern? Oder schlägt die deutsche Tugend durch, alles bis zum Exzess zu praktizieren und auszuleben? Vermutlich beides, wobei die Medien in Tateinheit mit der Pharmabranche dafür sorgen, dass bei Bürgern jenseits der Fünfzig mindestens drei Leiden zum guten Ton gehören.

Jede Woche gibt es im deutschen Fernsehen rund 20 Sende-Termine in Sachen Gesundheit. Ob die Sendungen "QuiVive" (RBB), "Visite" (NDR) oder "Servicezeit: Gesundheit" (WDR) heißen, das Schema ist immer gleich. Eine kluge Moderatorin, teilweise medizinisch vorgebildet, sitzt oder steht einem klugen Arzt gegenüber. Die Themen und Krankheiten werden so ausgewählt, dass sich möglichst viele Zuschauer betroffen fühlen. Also Rückenschmerzen, Depressionen, Diabetes, Kopfschmerzen, Allergien oder Grippe. Zwischendurch werden die erschreckenden Zustände in deutschen Krankenhäusern eingeschoben, so dass Klinikphobien und Hospitalismus bereits eintreten, bevor der Zuschauer ein Bett gesehen hat.

Der Ablauf ist vorgegeben: Nach einer kurzen, aber dramatischen Beschreibung der Krankheit kommen die beunruhigenden Zahlen und der Hinweis, dass die Dosensuppen-Allergie auf dem besten Weg ist, Volkskrankheit zu werden: Jeder 200. Bundesbürger, nein, das ist zu weit weg, nicht erschreckenden genug. Über 450.000 Bundesbürger leiden bereits an einer Dosensuppen-Allergie, wobei Ungeborene und frisch Verstorbene zum Zwecke hohen Zahl eingerechnet werden. Dazu die berühmte Dunkelziffer.

Und noch eine erschreckende Zahl: 80 bis 90 Prozent der Betroffenen werden falsch behandelt, erklärt die Moderatorin mit wichtiger Sorge. Und der neben ihr stehende Arzt nickt dazu. Nach längeren Mutmaßungen über die vielen Fehlbehandlungen kommt der erste Anrufer, meist weiblich und um die 50. Sechs Ärzte und drei Therapien haben nicht geholfen. Erst Akupressur und die alternative "Schenk die Dose einem Armen-Methode" eines Psychotherapeuten schafften Erleichterung. Problem: Die gute Frau leidet jetzt unter einer Tütensuppen-Allergie. Mag sein, dass einige der Sendungen brauchbare Ratschläge liefern. Die meisten aber bleiben an der Oberfläche und sind allenfalls Trost für Betroffene: "Wie schön, 450.000 Menschen geht es genau wie mir."

Gleichzeitig kommen Hypochonder auf ihre Kosten. Hohe Dunkelziffer? Gehöre ich auch dazu? War vielleicht Allergie-Angst im Spiel, als ich mir beim Öffnen der Championcreme-Suppe von Maggi in die Finger geschnitten habe? Und warum ist mir nach der dritten Dose immer so schlecht? Das Unbehagen wird geschürt durch elf Krankenhaus-Serien. Die einen eher tantig wie "In aller Freundschaft" oder "Der Landarzt". Die anderen beinhart und dicht an der Realität wie "Emergency Room" oder "Dr. House".

Da mögen auch Zeitungen und Zeitschriften nicht zurück stehen. Vor allem der Stern macht so genannte Volkskrankheiten gern zu Titelgeschichten oder Sonderheften. Im vergangen Herbst brachte er eine sechsteilige Serie über "Wege aus der Sucht". Das Heft, auf dessen Titelseite die Serie angekündigt wurde, gehörte zu den drei bestverkauften des Jahres. Verständlich, dass die Redaktion wenig später "Neue Wege aus der Depression" nachlegte. Einmal mehr mit erschreckenden Zahlen. 20 Prozent aller Bundesbürger sind in irgendeiner Form krankhaft depressiv. Und 40 Prozent haben schon einmal im Leben eine depressive Phase durchlebt. Obwohl der Stern Alternativen zur Medikation aufzeigte - den dänischen Pharma-Produzenten Lundbeck hat's gefreut.

Von den vermeintlich 16,5 Millionen Depressiven glauben allenfalls 50 Prozent an die Couch. Die anderen 50 Prozent lassen sich lieber Wundermittel wie "Cypralex" von Lundbeck verschreiben, das angeblich wieder fröhlich, aber häufig auch dick macht. Schlafstörungen zählen ebenfalls zu den Nebenwirkungen. Doch sie sind wenigstens lustig.

Mehr noch als die Printmedien spielt das Internet den Pharmafirmen in die Arme. Auf einigen Hundert Websites kann sich der User wunschlos krank informieren. Viele Absender haben das ehrliche Anliegen, anderen Betroffenen zu helfen. Doch genauso viele gehören zu Vereinen, PR-Agenturen und Interessengruppen, die im Auftrag von Pharmafirmen handeln oder ganz einfach mit Werbung Geld verdienen wollen. Weil sich Horrormeldungen über den Krankenstand in Deutschland selten nachprüfen und widerlegen lassen, gehen die Zahlen in die Vollen.

Laut Aponet, der Apotheken-Website, gibt es über 200 Arten von Kopfschmerzen. gesundheit.de von Andreae-Noris Zahn beschränkt sich auf 160 Arten, weiß aber, dass mehr als 33 Millionen Bundesbürger an Spannungskopfschmerzen oder Migräne leiden. Im Zweifelsfall an beidem. Entsprechende Arznei siehe Liste. Allergien sind zum Aussuchen und reichen vom Chinarestaurant-Syndrom bis zur Latex-Allergie. Letztere bezieht sich allerdings nicht auf Swinger-Clubs, sondern auf den Gummibaum neben dem Fernseher. Jeder vierte Erwachsene und jedes dritte Kind sind laut verbraucher.org von einer Allergie betroffen, also rund 25 Millionen Deutsche. Rückenschmerzen bieten eine ähnliche Vielfalt und haben noch mehr Menschen im Griff. Laut Wikipedia leiden 27 bis 40 Prozent aller Deutschen dauerhaft unter ernsthaften Rückenproblemen, 70 Prozent einmal im Jahr und über 80 Prozent mindestens einmal im Leben. (Besonders nach Umzügen mit Bechstein-Flügeln.)

Eine der beliebtesten Volkskrankheiten ist Bluthochdruck (Hypertonie). Rund ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland haben einen solchen, sagt die Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Es gibt ihn je nach Website in zwei, drei oder vier Hauptformen, die jeweils eine besondere Medikation erfordern. Am besten aber die ganze Bandbreite: Beta-Blocker, ACE-Hemmer, Diuretika und Kalziumantagonisten. Obwohl diese Mittelchen bei vielen Pharmafirmen die größten Umsatzmacher sind, führen sie nur bei 30 Prozent der Patienten zu einem dauerhaften Erfolg.

Der beste Weg zu normalen Blutdruckwerten ist immer noch weniger Fett und Zucker, kaum Alkohol und kein Nikotin. Dieser Rat gilt auch für das Heer der Diabetes-Kranken. Wie groß es in Deutschland ist, hängt auch hier vom Anbieter der Website ab. Manchmal fünf, manchmal sieben, manchmal über acht Millionen. Dazu die berühmte Dunkelziffer: Alle Übergewichtigen in Deutschland (über 50 Prozent Prozent der Erwachsenen) sind prospektive Diabetes-Fälle.

Zwar gibt es eine Fülle weiterer Volkskrankheiten, an denen sich gutes Geld verdienen lässt (Verdauungsprobleme, Durchblutungsstörungen, klimakterische Beschwerden, Innere Unruhe, Schlaflosigkeit...). Doch die reichen der Pharmaindustrie längst nicht mehr aus. Darum werden auf ihre Initiative hin, auch Forschung genannt, immer neue Leiden entdeckt, erfunden oder durch Umbenennung zu solchen erklärt: Kiefergelenkstörungen, PC-Maus-Syndrom usw. Vor zehn Jahren zum Beispiel überraschte der US-Pharmaproduzent Pfizer die Öffentlichkeit mit der drohenden Nachricht, dass jeder dritte Mann in irgendeiner Weise impotent sei. Wie schön, dass gleichzeitig Pfizer's Viagra auf den Markt kam.

Einschließlich aller Süchte (Drogen, Alkohol, Sex, Kaufen, Spielen, Arbeiten, Waschen, Essen, Hungern, Internet, Extremsport, Sammeln) sind mindestens 300 Millionen Deutsche krank. Weil das bei einer Bevölkerung von 82 Millionen schlecht möglich ist, kommen auf jeden Bürger vier mehr oder weniger ernsthafte Leiden. Nichts ist langweiliger als ein Mensch, der durch und durch gesund ist.

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6 Kommentare

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  • BO
    B. Ochse

    Lieber Polemiker, keine Ahnung was ein "Bechstein-Flügeln" damit zutun hat, es kommt auch keine auf die Idee sein Auto für den Reifenwechsel selber hochzuheben, und ein Steinway-Flügel wiegt auch nicht weniger.

  • J
    Jones

    @ heiribido - grammatikalisch sicher richtig, ich denke jedoch dass der Autor hier im Titel auf Molières Theaterstück 'Le malade imaginaire' anspielt, welches in seiner deutschen Übersetzung 'Der eingebildete Kranke' heißt.

     

    Ob diese Übersetzung allerdings so ganz richtig ist, das sei einmal dahingestellt...

  • IK
    Im Kyungsoon

    Großartig! Danke

  • S
    sjb

    Erscheint dieser Artikel auch in der gedruckten taz? Wäre eine ziemliche Verschwendung. Was bitte soll das? Kann ich Kommentator Nr. 1 nur zustimmen.

  • H
    heiribido

    "Der eingebildete Kranke"? Das will dann wohl sagen, dass der Kranke eingebildet ist. Wenn es heißen soll, dass die Krankheit eingebildet ist, müsste es heißen "Der eingebildet Kranke".

  • B
    bbx

    Als berufstätiger Mensch hat man gar keine andere Wahl, als wegen jedem Mist zu Arzt zu laufen, weil die Personalabteilung gern einen gelben Schein sehen will, wenn man nicht zur Arbeit kommen kann - auch wenn es nur eine fiebrige Erkältung ist, die man leicht selbst kurieren kann.

     

    Der Arzt verschreibt einem garantiert nicht massenhaft Medikamente, die dann daheim in der Schublade schmoren könnten, weil er nämlich budgetiert ist und alles tun wird, um nicht in den Regress zu kommen. Depressiven Kassenpatienten wird aus dem selben Grund auch nicht Cipralex verordnet, sondern Doxepin, das man schon für 25 statt für 130 Euro bekommt. Ansonsten bestimmen die Krankenkassen die Medikation für ihre Versicherten über entsprechende Rabattverträge mit dem Pharmakonzernen selbst.

     

    Hoher Blutdruck ist keinesfalls eine "beliebte Volkskrankheit", sondern Killer Nummer 1 in den Industriestaaten. Und Ihr Rezept "weniger Alkohol, Fett und Zucker" hilft genetisch indisponierten Patienten auch nicht weiter.

     

    Schlafstörungen, unter denen Wechselschichtarbeiter eigentlich immer leiden, fühlen sich ungefähr so an, wie Schlafentzug unter Folter. Ihr Spott ist also nicht notwendig, um den Betroffenen ein mieses Gefühl zu machen, dass haben sie bereits ganztägig.

     

    Den Rest - spare ich mir mal.

     

    Hätten sie doch einfach einen Artikel über Dosensuppe geschrieben...