DIE FRANZOSEN ERWARTEN EINE STÄRKUNG DES STAATS
: Repression löst keine soziale Krise

Jacques Chirac, den 82 Prozent der Franzosen gewählt haben, hat 18 lange Nächte geschwiegen. Erst als die höchsten Flammen gelöscht waren, wandte sich der Staatspräsident an sein Volk. In seiner Ansprache sagte er den Jugendlichen in den Vorstädten: „Ihr seid alle Töchter und Söhne der Republik.“ Er kündigte einen „freiwilligen zivilen Dienst“ für Arbeitslose an – und verlängerte die auf einem Gesetz aus dem Algerienkrieg beruhende Ausgangssperre.

Die Erinnerung an die Gleichheit und den Respekt in der Republik ist ein schöner Satz für die Geschichtsbücher. Doch einen Ausweg aus der Krise in den Vorstädten weist er genauso wenig wie der „zivile Dienst“. Am allerwenigsten hilft das Ausnahmerecht. Noch nie haben Polizei und Repression eine soziale Krise gelöst.

Wenn es hingegen einen Konsens in Frankreich gibt, der sämtliche politischen Lager und alle sozialen Klassen durchquert, dann diesen: Die immer tieferen sozialen Ungerechtigkeiten sind inakzeptabel. Der Konsens reicht von den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die im Winter 1995 streikten, über die 56 Prozent der Franzosen, die im vergangenen Mai die neoliberale Verfassung der EU ablehnten, bis hin zur Vorstadtbevölkerung. Von der zündelt nur eine winzige Minderheit, doch eine große Mehrheit versteht die Motive der Revolte.

Der Neogaullist Chirac persönlich formulierte diesen Konsens 1995 mit seinem Slogan: „Gegen den sozialen Bruch“. Doch es blieb beim Wahlkampfversprechen. Die Laufrichtung linker wie rechter Regierungen in Paris und in anderen EU-Ländern zielt in die entgegengesetzte Richtung

Doch die Hoffnung der Franzosen richtet sich – das ist Teil der politischen Kultur – auf den Staat. Er soll die Ghettoisierung aufbrechen. Er soll – mit mehr Personal in besser ausgestatteten Schulen, Postbüros und Nachbarschaftspolizeiwachen – in die Vorstädte zurückkehren. Und er soll Massenentlassungen in profitablen Unternehmen verbieten. Solange Chirac und ein großer Teil der politischen Klasse Frankreichs keine Antwort auf dieses Verlangen liefert, redet er an einer Mehrheit seiner Landsleute vorbei. DOROTHEA HAHN