piwik no script img

Alice und Salam, unterwegs in ihr Wunderland

NAHOST Dokumentarfilme über zwei Gesichter des palästinensischen Aufbegehrens (Panorama)

Lasziv lehnt die Königin über dem Geländer. Ihr tiefrot geschminkter Mund ist weit aufgerissen. „I’m gonna getcha, getcha, getcha!“, schreit sie ins Mikrofon. Der dichte Bühnennebel verleiht ihrem Auftritt etwas von einem Rockkonzert.

Die Dokumentation „Art/Violence“ bringt Theater auf die Kinoleinwand – und zwar das Freedom Theatre aus Dschenin im israelisch besetzten Westjordanland, eines der ungewöhnlichsten, mittlerweile aber auch international bekanntesten Theater überhaupt. Sein Gründer, Juliano Mer-Khamis, wurde 2011 von einem Unbekannten erschossen.

Die Königin aus der filmisch dokumentierten Inszenierung ist die Rote Königin aus der Dscheniner Adaption von „Alice im Wunderland“, die eine Alice zeigt, die in einem palästinensischen Alltag voller Armut und Unterdrückung entflieht und in ihr Wunderland eintaucht. Von der Inszenierung zeigen die Filmemacher – es sind der Theaterregisseur Udi Aloni und die Freedom-Theatre-Schauspielerinnen Batoul Taleb und Mariam Abu-Khaled – allerdings nur Fragmente. Dazwischen werden Interviewsequenzen mit den Beteiligten geschnitten, die vor allem das Konzept des Theaters selbst erklären.„Kunst ist Teil des Widerstands“, sagt die Alice-Darstellerin Taleb und fasst damit die Vision des Theatergründers Mer-Khamis zusammen: Kunst als scharfe Kritik an den politischen Zuständen, Theater als Ausbruch aus von außen festgezurrten Identitäten. „Ausdrucksfreiheit“, erklärt Mer-Khamis in einer vor seiner Ermordung gedrehten Sequenz selbst, „ist die erste Freiheit. Sie kommt vor der Freiheit von Unterdrückung.“

Kulturelle Intifada

Das meiste, das man im Film erfährt, hat man in den letzten Jahren bereits in anderen internationalen Medien gelesen oder gehört. Es bleibt offen, was die Theaterleute des so viel beachteten Freedom Theatre dazu bewegt hat, ihre Arbeit nun auch filmisch zu dokumentieren. Ein Teil des Filmmaterials war zudem im vergangenen Jahr bereits online zu sehen. Dennoch beeindruckt der Elan, mit dem die jungen Schauspieler nach der Ermordung ihres charismatischen Ziehvaters weiter an ihrer kulturellen Intifada arbeiten.

Die kulturelle Graswurzelarbeit des Theaters steht in den „Panorama Dokumenten“ einer völlig anderen Perspektive auf den Nahostkonflikt gegenüber. Der israelische Regisseur Dan Setton nimmt mit seiner Dokumentation „State 194“ die hohe Politik in den Blick. Über mehrere Jahre hinweg hat er das Bemühen der palästinensischen Führung um einen eigenen Staat verfolgt. Der Premierminister der palästinensischen Autonomiebehörde, Salam Fajad, legte 2009 unter dem Titel „Ende der Besatzung – Aufbau des Staates“ einen Plan vor, der Palästina durch institutionelle und wirtschaftliche Reformen auf die Eigenstaatlichkeit vorbereiten sollte. Im November 2012 wertete die UNO-Vollversammlung Palästina zum Beobachterstaat auf.

Die Einblicke, die Setton gewährt wurden, sind erstaunlich. Da wird die israelische Oppositionsführerin Zipi Livni im persönlichen Gespräch mit Siedlern gezeigt und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu beim Besuch jüdischer Lobbygruppen in den USA gefilmt. Vor allem aber den unermüdlichen Fajad hat Setton ausgiebig begleitet und mehrfach für persönliche Interviews vor die Kamera bekommen.

In dieser Nähe liegt jedoch die Crux. Mal trinkt der volksnahe Fajad Tee mit den Bewohnern eines kleinen Dorfes, mal bejubelt er ausgelassen die palästinensische Fußballmannschaft, mal gibt er den fortschrittlichen Hausmann. Und immer wieder beschwört seine Stimme aus dem Off den großen Traum vom Staatsaufbau, begleitet von einer gewichtigen Filmmusik, die dem Politiker unmissverständlich die Gravitas eines weisen Staatsmannes zu verleihen sucht. Allzu undifferenziert präsentiert Setton den Ministerpräsidenten als gleichermaßen bodenständigen wie visionären Politiker, der sich gegen den Widerstand der Hamas und der israelischen Rechten für wahren Fortschritt in Nahost einsetzt.

Kein Wunder, dass Fajad dafür sogar die Tore seines Privathauses öffnet. In der Schlussszene gibt er seiner Frau einen Kuss und erklärt: „Wir haben den Test bestanden, wir haben einen Staat verdient.“ Dann ruft er ihr zu: „Diese Oliven brauchen mehr Öl.“ Sie antwortet nur, er selbst habe sie zubereitet. Der von Setton gezeichnete Ministerpräsident ist eben auch ein fortschrittlicher Ehemann – und „State 194“ ist die zu empathisch geratene Lobeshymne eines israelischen Regisseurs auf ihn.

JANNIS HAGMANN

■ „Art/Violence“, 11. 2., CineStar, 19.30 Uhr; 12. 2., CineStar, 22.30 Uhr; 14. 2., Cubix, 17.30 Uhr

■ „State 194“, heute, CineStar, 20 Uhr; 9. 2., CineStar, 14.30 Uhr; 15. 2., CineStar, 20 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen