Hilfe für trinkfreudige Jugendliche: Wenn Kids sich ins Koma saufen
Regelmäßig werden Teenager mit Alkoholvergiftung in Krankenhäuser eingeliefert. Was treibt sie zum Suff? Zwei Sozialarbeiter suchen das Gespräch mit den jungen Kampftrinkern - und bieten Unterstützung.
Zwei Jahre nach einem tödlichen Wetttrinken in einer Kneipe muss sich seit Mittwoch der Wirt vor Gericht verantworten. Zu Prozessbeginn übernahm der heute 28-Jährige die Verantwortung für den Tod des 16 Jahre alten Jugendlichen. Er habe "gänzlich verantwortungslos gehandelt" und "bedaure, das Wetttrinken veranstaltet zu haben", hieß es in einer Erklärung seiner Anwälte. Der Angeklagte muss sich vor dem Landgericht wegen Körperverletzung mit Todesfolge verantworten.
Im Februar 2007 hatte der Gymnasiast bei dem Wetttrinken rund 45 Glas Tequila geleert, war ins Koma gefallen und später gestorben. Der Wirt soll während des Wetttrinkens überwiegend Wasser getrunken haben. Bei dem Jugendlichen wurde damals ein Blutalkoholwert von 4,4 Promille festgestellt. Der Fall sorgte bundesweit für Schlagzeilen und löste eine Debatte über Alkoholmissbrauch unter Minderjährigen aus.
In dem Verfahren werden dem früheren Gaststättenbetreiber weitere Verstöße gegen das Jugendschutzgesetz vorgeworfen. In 172 Fällen soll er von November 2005 bis April 2007 entgegen den Bestimmungen Alkohol an Kinder und Jugendliche ausgeschenkt haben. DDP
Als Kathrin* wieder aufwacht, sieht sie selbstgemalte Kinderbilder an weißen Wänden. Irgendwo schreien Babys. Draußen auf dem Flur laufen Menschen auf und ab. In Kathrins linkem Arm steckt eine Kanüle, ihr rechter Fuß schmerzt und ist verbunden. Ihre Spucke schmeckt säuerlich. Die 15-Jährige trägt einen frisch gewaschenen Krankenhaus-Kittel. Die Schwester sagt, ihre Sachen seien dreckig gewesen. Eine junge Frau mit silbernem Stecker in der Nase setzt sich zu ihr ans Bett; fragt, ob Kathrin weiß, dass sie eine Alkoholvergiftung hatte, 2,0 Promille, und ob es ihr besser geht? Ja, sagt Kathrin. Das liegt an der Kochsalzlösung, sagt die junge Frau. Sie zeigt auf die Kanüle. Früher hätte man den Magen ausgepumpt.
Die Frau erzählt Kathrin, dass sie Ulrike Friedrich heißt und beim Caritas-Projekt "Nachhalt" arbeitet. Es geht darum, mit Jugendlichen zu sprechen, die zu viel Alkohol getrunken haben und deshalb auf die Kinderstation im Krankenhaus gebracht worden sind. Im Wechsel mit ihrem Kollegen Johannes Olschewski telefoniert Friedrich samstags und sonntags Krankenhäuser ab und fragt nach Jugendlichen, die mit Alkoholvergiftungen eingeliefert worden sind. Es gibt immer etwas zu tun.
Erst am vergangenen Wochenende hat die Polizei wieder fünf betrunkene Teenager eingesammelt. Einer von ihnen, 16 Jahre alt, landete mit 3,0 Promille auf der Intensivstation. Auch ihn hat Ulrike Friedrich getroffen. Ihr Kollege beginnt die Gespräche im Krankenhaus manchmal mit einer ganz simplen Frage: "Was ist denn anders gelaufen als sonst an diesem Abend?"
Nicht immer lässt sich alles so genau rekonstruieren, wie das jetzt beim Tod des Schülers Lukas W. geschehen ist. W. war 16 Jahre alt, als er vor zwei Jahren nach fast vier Dutzend Tequilas nicht mehr aus dem Koma aufgewacht ist. Am Mittwoch begann der Prozess gegen den 28-jährigen Wirt, in dessen Charlottenburger Kneipe sich Lukas W. zu Tode getrunken hatte. Vor einem Jahr waren zwei Kellner in derselben Sache zu zehn Monaten Sozialtrainingskurs verurteilt worden. Minderjährige zum Wettsaufen zu animieren, sei in diesem Fall nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch strafrechtlich zu ahnden, stellte der Richter fest.
Bei Kathrin ist es kein Wettsaufen. Sie hat das Abendessen in der Wohngruppe verpasst, es gab Stress mit einer Betreuerin. Dann kommt sie zu spät zur Verabredung mit zwei Freundinnen. Sie setzt sich an diesem kalten Herbstabend also zu zwei Jungs, die sie öfter mal gesehen hat, in den Park. Die beiden trinken Bier, das schmeckt ihr nicht. Sie legen zusammen und holen eine Flasche Wodka und ein bisschen Orangensaft beim Spätkauf. Kathrins Ausweis wollte dort nie jemand sehen. Sie würde gerne noch etwas essen. Irgendwie vergisst sie das dann.
Der Wodka macht angenehm warm, und nach einer Weile nervt auch der Typ gar nicht mehr so sehr, der sie die ganze Zeit schon anfasst. Sie lässt sich von ihm küssen. Als ihre Blase immer heftiger drückt, will keiner sie zum Gebüsch begleiten. Sie kriegt dort gerade noch so die Hose wieder hoch, dann wird ihr immer schwindliger. Alles dreht sich. Sie muss sich hinlegen.
Im Jahr 2000 wurden in Berlin 156 Kinder und Jugendliche wegen einer Alkoholvergiftung stationär behandelt, 2007 waren es 335 junge Leute im Alter zwischen zehn und 20 Jahren, die aus diesem Grund im Krankenhaus landeten.
Die Sozialpädagogin Friedrich und ihr Kollege Olschewski haben im vergangenen Jahr 155 Teenager in Krankenzimmern besucht. Wenn die Zahlen für 2008, die bei der Senatsverwaltung noch nicht vorliegen, gegenüber 2007 nicht deutlich gestiegen sind, dann haben die Nachhalt-Betreuer im Schnitt jeden zweiten alkholvergifteten Jugendlichen gesprochen. Oft hatten die Kids Wodka getrunken. Meist riefen Passanten den Notarzt. Gar nicht so selten waren es auch Passanten, die vorher den Alkohol besorgt haben.
Paul* und seine Kumpels beispielsweise hatten zusammengelegt und jemanden gebeten, zu holen, was er kriegt. Es waren ein paar Bier-Mixgetränke, aber auch Wodka. Sie setzten sich auf eine Tischtennisplatte und tranken. Paul erinnert sich ganz dunkel, dass er irgendwann im Matsch lag. Die Ärzte hatten anschließend festgestellt, dass sein Körper nur noch 34,1 Grad warm war. Unterkühlung macht den Medizinern gerade im Herbst und Winter manchmal mehr Sorgen als die Vergiftung.
Ulrike Friedrich kennt eine zwei Jahre alte Studie, die bei Teenagern nach den Motiven fürs Trinken gesucht hat und feststellt, dass es vor allem soziale sind: Die Party soll besser werden, Schulstress spielt eine Rolle und Ärger zu Hause. Die Gründe scheinen ähnlich wie bei Erwachsenen. Aber es gibt eine Absturz-Ursache, die sich unterscheidet: Unwissen. Ein kleines Glas Wodka enthält so viel Alkohol wie 0,33 Liter Bier. Als Olschewski das Paul erzählt, schaut der Schüler überrascht. Dass Alkohol ein Nervengift, ein Zellengift ist, weiß kaum jemand, weil Bier, Wein und Schnaps überall getrunken werden. Warnhinweise, wie auf Zigarettenschachteln, gibt es nicht. In ihrem Büro mit den vielen Zimmerpflanzen und den Aufklärungs-Postern an den Wänden haben Olschewski und Friedrich auch eine Rauschbrille im Regal, um den Zustand von 1,3 Promille zu simulieren. Sie sieht aus, als könnte man damit tauchen. Wer sie aufhat, greift häufig daneben. Es geht ihnen darum, ein Gefühl dafür zu vermitteln, was Alkohol anrichten kann. Sie sind beide Mitte 20, sie wirken nicht wie Lehrer. Die Jugendlichen hören ihnen zu.
Friedrich hat den Eindruck, dass viele, die bei ihnen landen, einen großen Druck spüren, etwas erreichen zu müssen. Praktikum, Bewerbung, Job. "Entwicklungsaufgaben bewältigen", sagt sie. Vielleicht lenkt der Alkohol davon ab. "Die Mehrheit kommt aus guten Elternhäusern", beobachtet sie, "gesichertes Milieu." Eine Erhebung unter Schülern in Hamburg und Berlin stellt dagegen fest: "Rauschtrinker" gehen eher zur Hauptschule als ans Gymnasium, sind seltener Migranten und eher 15 als 13 Jahre alt.
Die Sozialpädagogin will in ihren Gesprächen nicht nur schocken und warnen, sondern auch etwas erfahren. Sie hört sich an, wie Kathrin, weil sie zu viel kiffte, nicht zur Schule ging und ständig aggressiv war, in eine betreute Wohngruppe musste. Kathrins Mutter ist Büroangestellte. Sie streiten oft. Ihr Vater ist Alkoholiker. Auch das kommt nicht selten vor. Kathrin ist vor einigen Monaten schon einmal zusammengebrochen, aber alleine trinkt sie nie. Sie weiß, wo das hinführen kann. Sie hat ihren Vater vor Augen - als abschreckendes Beispiel.
Kathrin kommt nach dem Samstagmorgen im Krankenhaus einige Male in die Beratungsstelle zu Friedrich. Die beiden reden über den Ärger mit ihrer Mutter, über Körpergewicht und Promillewerte, darüber, was man am besten macht, wenn Freunde zu viel getrunken haben. Die meisten wollen ihre Kumpels möglichst schnell nach Hause schaffen, sagt Friedrich. Irgendwo abliefern. Sie denken nicht daran, dass die Bewusstlosen an Erbrochenem ersticken könnten, dass es besser ist, wenn sie nicht alleine sind. Viele ha- ben Angst, den Krankenwagen zu rufen. Deshalb tun das oft Leute, die zufällig vorbeikommen.
Ulrike Friedrich ist sich nicht sicher, ob es etwas bringt, das Trinken in der Öffentlichkeit zu verbieten, so wie es am Alexanderplatz passiert ist, weil dort immer regelrechte Teenie-Saufgelage stattfanden. Die Schwierigkeiten verlagern sich damit nur - oder verstärken sich schlimmstenfalls. "In Privatwohnungen oder Jugendräumen ist das vielleicht noch gefährlicher", sagt Friedrich, "da kommt am Ende niemand vorbei."
Mit Kathrin und einigen anderen ist Friedrich nach mehreren Beratungstreffen zum Klettern gegangen. Sie sollten sehen, was es heißt, an Grenzen zu gehen, ohne sich zu schaden. Sie mussten sich im Team helfen. Kathrin ist an diesem Tag ziemlich hoch geklettert - ohne abzustürzen.
* Namen geändert, Biografien anonymisiert
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