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die wahrheitIndien muss schwindien

Mein Schulfreund Kay wohnte neben der Post. Das Postamt war ein eckiger grauer Betonbau, der in ein identisches zweites Gebäude überging. Dort lebten die Postbeamten.

Mein Schulfreund Kay wohnte neben der Post. Das Postamt war ein eckiger grauer Betonbau, der in ein identisches zweites Gebäude überging. Dort lebten die Postbeamten. Kays Vater war Fernmeldetechniker, und seine Mutter liebte die kühle Sachlichkeit der Sechzigerjahre. Ihre Wohnung wirkte fast völlig farblos. Die Regale waren weiß und die Stahlrohrstühle und -sofas mit schwarzem Leder überzogen. Überall standen energetische Spiele herum wie das Kugelstoßpendel, bei dem eine Silberkugel klackernd vier andere anstößt.

Kay war Hippie und Punk und trug lange schwarze Locken. Er hörte stets die neueste Musik und war ein Riesenfan von Marvel-Comics. Er besaß Berge der bunten Heftchen. In seinem Keller machten wir die allerersten Selbstversuche mit Drogen, Alkohol und Mädchen.

Eines Tages entschloss sich seine Freundin, nach Indien zu gehen und für immer bei den Krishnas zu leben. Kay schrieb ihr endlose Briefe, und einmal telefonierten beide nachts miteinander. Zwischen der Post und dem Postbeamtenwohnhaus gab es im Keller einen Verbindungsgang. Dort war ein schwarzer Fernsprechapparat an der Wand installiert, mit dem man ohne Probleme in die Welt hinaustelefonieren konnte. Wir hatten es auf einer Party in Kays Keller spaßeshalber mal probiert und eine Nummer in Rom angewählt. Jetzt sprach Kay zwei Stunden lang mit Indien.

Kurz darauf engagierte die Post eine Detektei, um herauszufinden, wie die Rechnung von 3.000 Mark zustande gekommen war. Schon damals war im Fernmeldegeschäft das Ausspähen von Angestellten durch Detektive nicht unüblich. Man kam schnell auf Kay, einigte sich aber darauf, dass er in den Sommerferien seine Schulden bei der Post abarbeiten durfte. 3.000 Mark. Eine Menge Holz für die Liebe.

Schließlich erklärte mir Kay, dass er seiner Freundin nach Indien folgen würde. Ich war entsetzt. Ein Jahr vor dem Abitur! Es war ihm egal. Indien rief - das heißt, erst einmal Frankfurt, wo er zur Probe ein halbes Jahr lang, kurzgeschoren und in orangefarbene Tücher gehüllt, singend durchs Bahnhofsviertel ziehen musste: "Hare Krishna, Hare Krishna, Krishna Krishna …"

Jahre später traf ich ihn zufällig in Berlin wieder. Er war noch immer mit seiner Freundin zusammen und auf erschreckende Weise normal geworden. Inzwischen war er Computerexperte und hatte mit Indien nichts mehr zu tun - bis auf eine Kleinigkeit: In seiner Wohnung gab es einen vollkommen weißen Raum, in dem er täglich eine Stunde meditierte.

Kürzlich rabaukte in der U-Bahn ein Mobiltelefon los. Der jugendliche Besitzer stellte eine der beliebtesten Fragen unserer Zeit: "Wo bist du denn gerade?" Und schrie dann mehrmals aufgeregt: "In Indien?!" Doch niemand staunte über das ferne Indien im Untergrund, ächzend lauschten die Passagiere dem üblichen Rhabarberquark junger Wegelagerer.

Als mein Freund Kay nach Indien ging, fiel ich meiner Umwelt monatelang mit dem Wortspiel "Indien muss schwindien" auf die Nerven. Es klang darin die Angst mit vor dem Verlust des geheimnisvollen Sehnsuchtsortes der Liebe. Heute ist Indien auf die Größe eines Handys geschrumpft und verschwunden.

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