KOMMENTAR VON REINER WANDLER ÜBER TUNESIEN NACH DEM MORD AN OPPOSITIONSPOLITIKER CHOKRI BELAÏD
: Letzte Chance für den Wandel

Ministerpräsident Jebali wird für den Tod Belaïds verantwortlich gemacht

Tunesiens Ministerpräsident Hamadi Jebali reagiert, aber leider zu spät. Der Generalsekretär der islamistischen Ennahda verspricht angesichts des Mordes an dem liberalen Oppositionspolitiker Chokri Belaïd und der Proteste in Tunis eine Regierungsumbildung. Es sollen nur noch Technokraten in der neuen Exekutive sitzen, die das Geburtsland des Arabischen Frühlings so schnell wie möglich zu Wahlen führen soll. Sich selbst nimmt Jebali freilich aus. Er will bleiben.

Noch vor kurzer Zeit hätte eine solche Lösung die volle Anerkennung der säkularen Opposition gefunden. Monatelang hatte sie vergebens einen nationalen Dialog gefordert, um eine unpolitische, aber effektive Regierung auszuhandeln. Zuletzt gab die mächtige Gewerkschaftszentrale UGTT Jebali die Chance, seinen Kurs zu ändern.

Nach mehreren Übergriffen auf Gewerkschaftshäuser und Oppositionelle durch ebenjene radikalen Milizen, die jetzt auch hinter dem Mord an Belaïd stecken dürften, setzte die UGTT im Dezember einen Generalstreik an, um ihn als eine Art Vertrauensvorschuss an die Regierung dann wieder abzusagen. Es kam nicht zur erwarteten Annäherung zwischen Islamisten und weltlichem Lager.

Schlimmer noch: Jebali wagte es nicht, den Hardlinern in seinen Reihen die Stirn zu bieten. Allen voran ist da der Parteichef und spirituelle Vater des tunesischen Islamismus, Rachid Ghannouchi, zu nennen. Er verteidigt die Milizen der sogenannten Liga zum Schutz der Revolution, traf sich mit radikalen Salafisten, die in den letzten Monaten Ausstellungen, Theater, Synagogen, Mausoleen und sogar die US-Botschaft überfallen haben.

Jebali hatte seine Chance, all das zu unterbinden und die Liga zu verbieten. Er beziehungsweise seine Innen- und Justizminister taten dies nicht. Deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, wenn er jetzt als Mitverantwortlicher am politischen Mord an Belaïd gesehen wird.

Es scheint zu spät für Jebali. Denn seine Idee eines Technokratenkabinetts wurde gestern von seiner eigenen Partei zurückgewiesen, während Teile der Opposition ihn dafür lobten. Angesichts dieser Lage wird dem derzeitigen Premier nur eines bleiben, will er das Land beruhigen: Er muss seinen Sitz ebenfalls räumen, um so breite Verhandlungen, notfalls ohne den harten Kern von Ennahda rund um Ghannouchi, zu ermöglichen.