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Montagsinterview Hostelbetreiber Andreas Becker"Bloß nicht zu viele Deutsche, sonst wirds langweilig"

Andreas Becker eröffnete 1997 seine erste kommerzielle Jugendherberge. Ein paar Australier als Gäste sind immer gut - aber wenn zu viele von ihnen zusammen sind, führt das zu einem Problem.

Andreas Becker Bild: Julia Baier
Interview von Svenja Bergt und Grit Weirauch

taz: Herr Becker, wann haben Sie das letzte Mal in einem Hostel übernachtet?

Andreas Becker: Vor zwei Jahren, in London.

Und wie war es?

Es war eine ziemliche Katastrophe. Ich musste morgens extrem früh raus und war in einem Achtbettzimmer mit Doppelstockbetten. Der Kollege über mir hatte heftigste Flatulenzen, ein Pärchen in dem Zimmer hat die ganze Nacht kopuliert. Ich habe die Augen fast nicht zugemacht und war am nächsten Tag ziemlich fertig. Das ist aber keine typische Erfahrung.

Was wäre typisch?

Im Regelfall kennen die Leute, die Mehrbettzimmer buchen, die Grenzen und sind in der Lage, ihr Verhalten so zu kontrollieren, dass sie stressfrei und relativ angenehm mit vier, fünf ihnen völlig Fremden ein Zimmer teilen können.

Sie sprechen offenbar aus Erfahrung.

Andreas Becker

Andreas Becker ist 41 Jahre alt. Er wurde in Oelde in Westfalen geboren. Mit der Wende kam er nach Berlin und begann Psychologie zu studieren. Er hielt ein Jahr durch. Die Studiengänge Japanologie und Volkswirtschaftslehre brach er nach drei Semestern ab. Becker reiste lieber. Dabei übernachtete er meist in Hostels.

Zurück in Berlin, eröffnete er zu Ostern 1997 sein erstes eigenes Hostel in der Reinhardtstraße Ecke Am Zirkus. Damit hatte er eine Marktlücke gefunden, die zur Goldgrube werden sollte. Ende der 90er-Jahre kamen immer mehr deutsche und ausländische Touristen in die Hauptstadt. In den letzten 15 Jahren hat sich die Zahl der Übernachtungen fast verdoppelt.

Wenn Becker über sein Hostel spricht, nennt er es auch heute noch den "Zirkus", obwohl der Name in englischen Lettern am jetzigen Standort am Weinbergsweg 1a prangt. "The Circus Hostel" bietet 231 Betten - vom klassischen Mehrbettzimmer mit vier bis acht Betten bis hin zu Appartements mit Küche, Bad, Balkon und Blick über die Dächer von Berlin. Im Oktober eröffnete Becker seine neueste "Zirkusfiliale", gegenüber dem Hostel: das Circus Hotel. Das Treffen der Branche, die am Dienstag beginnende Internationale Tourismusbörse (ITB), meidet er dennoch - und fliegt lieber nach Japan.

Ich bin in meinem Leben zweimal um die Erde gereist. Und diese sechs Jahre habe ich mehr oder weniger komplett in Hostels verbracht. Aber das ist jetzt 15 Jahre her.

Und im Unterschied zu damals besitzen Sie jetzt selbst ein Hostel. Wie hat sich Ihr Blick beim Reisen verändert?

Ich habe das, was die Franzosen eine "déformation professionelle" nennen: Ich laufe durch ein Hostel und schaue mir jede Minute an, wie die Betreiber verschiedene Probleme gelöst haben. Denn die Gäste sind genau die gleichen, die auch bei uns übernachten. Der typische Backpacker reist entlang einer Kette von Städten, da gehören London und Berlin natürlich zu den Pflichtdestinationen.

Es sah ja nicht immer danach aus, dass Sie eines Tages ein erfolgreicher Hostelbesitzer sein würden …

Das sah in der Tat lange ganz und gar nicht danach aus. Ich war eher ein gescheiterter Berliner. Also jemand, der nach Berlin gekommen ist und massive Schwierigkeiten hatte, hier einen Platz zu finden.

Wo kommen Sie ursprünglich her?

Aus dem Westfälischen, aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Münster. Sozial und gedanklich äußerst begrenzt. Ein Raum, den ich eigentlich schon als Kind immer als zu eng empfunden habe. Ich habe deshalb nach neuen Horizonten gesucht, früh angefangen zu reisen. Als 16-Jähriger war ich in Nordafrika.

Reisen als Flucht?

Auf alle Fälle.

Wann sind Sie nach Berlin gekommen?

Direkt nach der Wende. Ich bin in eine Wohnung in Weißensee gezogen, eine Ruine, ohne Fensterscheiben, es war Winter. Mit mir zusammen in der WG war ein Kollege von zu Hause, der zu viel kiffte. Ich habe drei Studiengänge angefangen und alle abgebrochen. Die ersten Jahre Berlin, das sah eher nach Ertrinken aus als nach Existenzaufbau: zu viel Drogen, zu viel Alkohol, keine Ziele.

Was hat Sie vor dem Ertrinken gerettet?

Ich bin 1993 zu einer Reise aufgebrochen, die eigentlich so etwas wie den Endpunkt dargestellt hat. Ich war dann am Ende mehr als zwei Jahre weg. Richtung Osten. Ich hatte zu Beginn der Reise schon körperliche Probleme. Der Magen. Ich bin durch Russland und Sibirien gereist, Zug, Lkws, und habe am Ende der Mongolei, südlich von Ulan-Bator, in der mongolischen Wüste einen Japaner kennengelernt, mit dem relativ schnell eine tiefe Verbindung da war. Der hat mich mit meinen zunehmenden körperlichen Problemen durch China geschleust, auf der Suche nach einem Krankenhaus. Wir reden von Mitte der 90er-Jahre, die medizinische Situation war katastrophal. Wir haben dann versucht, nach Japan zu kommen - obwohl ich zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr laufen konnte. Und wirklich, an dem Tag, an dem wir in Japan angekommen sind, ist mir der Magen geplatzt. Ich hatte eine Überlebensdauer von ein paar Stunden. Ich habe eine Zeit lang im Koma gelegen. Und bin in einer Sofortoperation in Tokio gerettet worden. Danach habe ich mein Leben neu zusammengebaut.

Das heißt?

Ich habe den Drogenkonsum auf null zurückgefahren, den Alkoholkonsum quasi auf null. Und habe Schritt für Schritt, mit Unterstützung meiner japanischen Freunde, in Tokio zuerst eine kleine Wohnung gemietet, einen Arbeitsplatz gefunden, Deutsch unterrichtet. Und Stück für Stück von einer Nullposition aus mein Leben neu zusammengebaut. Ich war insgesamt zwei Jahre in Japan.

Wieso sind Sie zurückgekehrt?

Das war eine Entscheidung, die innerhalb von Sekunden fiel. Ich hatte mich in Japan eingerichtet, war beliebt als Deutschlehrer, hatte auch ein gutes Einkommen. Es gab ein Restaurant in der Nähe meiner Wohnung, wo ich im Regelfall abends gegessen habe. Und es gab ein Ritual, das jeden Abend, an dem ich da war, also drei-, vier-, fünfmal die Woche, wiederholt wurde: Jedes Mal nahm die Kellnerin die Stäbchen vom Tisch und legte Messer und Gabel hin. Ich bestellte mein Essen auf Japanisch, unterhielt mich mit ihr auf Japanisch, habe immer Messer und Gabel wieder weggelegt und die Stäbchen vom Nachbarplatz genommen. Eines abends habe ich gewusst: Ich werde keine Chance haben, in diesem Land jemals integriert zu sein. Wenige Tage später bin ich nach Deutschland zurückgekehrt.

Hier angekommen, hatten Sie die Idee mit dem Hostel?

Nee, ich hab auf Baustellen gearbeitet, bis der Besitzer eines Sexshops in meinem Haus einen Motorradunfall hatte, auf mich zukam und fragte, ob ich ihn vertreten könnte. Einer der Gäste des Sexshops, der zum Kaffeetrinken vorbeigekommen ist, hat mich in ein Gespräch verwickelt und aufgefordert, darüber nachzudenken, ob ich irgendwelche Kenntnisse oder Fähigkeiten hätte; Talente, die man nutzen könnte, um nicht ein Leben lang Videos zu verkaufen.

Der fand Sie zu schade für den Job?

So drückte er das aus, ja. Ich hab die Bemerkung fallen lassen, das Einzige, wovon ich was verstehe, sind Hostels. Und er fragte, gibt es das in Berlin, kann man damit was machen? Der Gedanke ist mir dann die ganze Nacht nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ich hab am nächsten Morgen die Wohnungsbaugesellschaft Mitte angerufen - das war eine dieser Situationen, wo ich auch heute immer noch glaube, das war Schicksal, da hat irgendjemand die Strippen gezogen - und am Nachmittag saß ich bei einer Frau von der Wohnungsbaugesellschaft in der Sprechstunde. Sie hatte einen Schlüssel in der Hand und sagte: "Ich glaub, das ist ihr Hostel." Das war die Immobilie Am Zirkus; eine Ruine, aber ich war verliebt. Das war dann der Anfang.

Wie kam es dazu, dass Sie diesen ersten Standort verlassen haben?

Das war eine der eher dunkleren Stunden der Berliner Nach-Wiedervereinigungs-Geschichte. Wir wurden mit unserem Gebäude in anrüchige Immobiliengeschäfte verwickelt. Im Endeffekt hat man uns rausgekauft.

Zu einem so guten Preis, dass Sie gleich das nächste Hostel eröffnen konnten?

Zu einem so guten Preis, dass wir das erste Haus entschulden konnten. Was uns sonst nicht gelungen wäre. Und es ist genug Geld übrig geblieben, um umzuziehen und das erste Hostel zu eröffnen, mit 100 Betten, das wirklich auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten war.

Eine Geschichte, wie sie nur in Berlin möglich ist.

Die Geschichte des Zirkus ist ohne die Geschichte Berlins nach der Wiedervereinigung überhaupt nicht denkbar: von der Immobilie, die wir bekommen haben, bis zur Tourismusexplosion, die wir erlebt haben …

Ist der Tourismus in Berlin immer noch anders als in anderen europäischen Großstädten?

Absolut. Nachhaltig anders. Der gesamte Geschäftstourismus ist im Vergleich zu London, Paris, Madrid deutlich unterentwickelt. Die großen Firmen sitzen nicht in Berlin. Es gibt Gäste, die fragen uns: "Wo sind denn die ganzen dunklen Anzüge?"

Bemerken Sie die Finanzkrise in Ihrem Hostel trotzdem?

Die Vorbuchungszahlen für die Monate April, Mai, Juni sind um 15 bis 20 Prozent niedriger als im vergangenen Jahr; das führen wir auf die Finanzkrise zurück. Wir haben insbesondere Rückgänge bei den Nationen, die offensichtlich am tiefsten in einer Schockstarre stecken: Der Anteil der Engländer, die der Treibsatz unter den Low-Budget-Touristen waren, ist zurückgegangen, auch die Zahl der Iren und Amerikaner - die angelsächsische Welt. Wir werden trotzdem ausgebucht sein. Denn wir haben natürlich den krisensichersten Teil des Marktes: Die Gäste, die wir unterbringen, sind im Regelfall zwischen 20 und 28. Sie stehen zwischen Studium und Beruf und nutzen ihre eine Chance im Leben, um zu reisen und andere Kontinente kennenzulernen. Es ist kein klassischer Tourismus, sondern eher das, was die Australier "Walk about" nennen, also eine Lebenserfahreung - und die wird als allerletzte geopfert.

Haben Sie als Hostelbesitzer eigentlich ein Interesse daran, dass die Nationen in Ihrem Hostel gemischt sind?

Das darf ich nicht ausführen, weil es wohl gegen das Antidiskriminierungsgesetz verstößt. Aber es gibt kein Hostel, das nicht Mittel hat, um die Zusammensetzung seiner Klientel aktiv zu steuern. Um mal ein Beispiel zu bringen: Das Haus sollte einen bestimmten Anteil von Australiern haben, Australier tragen die Hostelidee, leben und verkörpern die Hostelidee par excellence. Als Hostelbesitzer sollten Sie aber auf jeden Fall sicherstellen, dass Ihr Haus von Australiern nicht dominiert wird. Weil Australier die bemerkenswerte Angewohnheit haben, wenn sie in zu großen Gruppen auftauchen, einfach zu viel zu trinken.

Spricht da der Reisende oder der Hostelier?

Durch meine langen Reisen, während deren ich in verschiedensten Hostels abgestiegen bin, habe ich das natürlich selbst mitbekommen. Aber nach zwei, drei Monaten als Hostelbetreiber sind die wichtigsten Dinge auch klar: Auf keinen Fall zu viele Deutsche, weil dann wirds langweilig. Die Japaner beeinflussen eine Atmosphäre sehr positiv, weil sie einen sehr zurückhaltenden, zivilisierten, sehr defensiven, integrationsorientierten approach haben.

Was wäre die Idealzusammensetzung?

Absolut großartig ist ein kunterbunt gemischtes Konzert, bei dem keine einzige Gruppe stark genug ist, die andere zu dominieren: So ist aufgrund der Zahlen jede Gruppe gezwungen, sich zu integrieren, zu assimilieren, zu gucken, wie ticken die anderen, und sich an deren Gegebenheiten anzupassen. Der Stil, der dann zwangsläufig entsteht, ist sehr nah an dem Stil, den die Australier haben: freundlich, unkompliziert, offen, kommunikationsorientiert, feierorientiert.

So ein Stil entsteht innerhalb weniger Tage, in denen die Backpacker hier sind?

Absolut. Es gibt so etwas wie eine kulturelle Erinnerung. Die Leute hinterlassen ein DNA-Teilchen, und die Summe der DNA-Teilchen über das Jahr formiert sich zusammen zu einer Identität.

Wo geht ihre nächste Reise hin?

Ich fliege morgen früh nach Japan.

Auch in ein Hostel?

Nein, ich wohne privat bei Freunden.

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