Die Traumfrau darf auch im Rollstuhl sitzen

Im Lore-Agnes-Haus lernen geistig Behinderte alles über Liebe, Sexualität und Partnerschaft. Zu Besuch bei einer ungewöhnlichen Aufklärungsstunde

Dass Behinderte lieben wollen und sich Sex wünschen, ist noch ein großes Tabu

AUS ESSEN GESA SCHÖLGENS

So ein Kondom ist schon was Kniffeliges. Mit spitzen Fingern schält Karina den glitschigen Gummiring aus der Packung. Die 16-Jährige überlegt kurz – und stülpt ihn dann langsam und vorsichtig über den Holzpenis. „Sehr schön“, lobt Sozialarbeiterin Annette Wilke. „Und worauf müsst ihr besonders achten?“ „Nie das Kondom mit scharfen Fingernägeln anfassen“, ruft die Schulklasse im Chor. – „Und beim Überziehen die Vorhaut zurückschieben“, ergänzt Georg, und wird dabei ein bisschen rot.

Die Sexualität behinderter Menschen zu enttabuisieren und zu stärken – das haben sich die Mitarbeiterinnen im Lore-Agnes-Haus vorgenommen. Das Essener Beratungszentrum ist Spezialist in Sachen Liebe. Und die Beraterinnen wissen, gerade wenn es um die Liebe von Behinderten geht, gibt es große Tabus: „Noch immer hängt die Aufklärung von Eltern, LehrerInnen und Einrichtungen ab“, sagt Annette Wilke. Oft müssten die aber selbst noch Schwellenängste überwinden, häufig würden sexuelle Kontakte Behinderter unterbunden. Die Beratung ist für Betroffene ein kleiner Schritt in Richung Selbstbestimmtheit.

Die neun Jugendlichen der Helen-Keller-Schule in Essen besuchen Annette Wilke heute schon das zweite Mal. Ihre „echten“ LehrerInnen müssen während des Unterrichts draußen bleiben. „Das hat den Vorteil, dass den Schülern der Leistungsdruck genommen wird“, erklärt Pädagogin Andrea Vogt. Wer nur zuhören möchte, darf auch das.

Los geht es mit einer lockeren Aufwärmrunde im Stuhlkreis. Mit bunten Smileys zeigen die TeilnehmerInnen, ob sie gut oder schlecht gelaunt sind. Die meisten freuen sich auf die Aufklärungsstunde. „Habt ihr heute noch besondere Fragen?“ fragt Annette Wilke. „Ja, ich …“, druckst Georg herum. „Du wolltest etwas über das erste Mal wissen, oder?“ „Ja!“ Der Junge nickt erleichtert.

Alle Jugendlichen – ob behindert oder nicht – haben ähnliche Probleme und Fragen: Sie reichen von „Wie oft darf ich onanieren?“ bis hin zu „Mein Penis krümmt sich nach rechts – ist das normal?“. Behinderten fehle jedoch oft die soziale Anbindung und der Austausch mit anderen Jugendlichen, dafür seien sie abhängiger von ihren Eltern oder Betreuern, und könnten weniger „rebellieren“, sagen die Beraterinnen. Und oft sei der Frust bei ihnen größer, etwa wenn jüngere gesunde Geschwister eher einen Partner finden. „Auch RollstuhlfahrerInnen treffen häufig auf Unverständnis, wenn sie ihren Wunsch nach Sexualität äußern“, sagt Annette Wilke. Deswegen seien Gespräche und eine spezielle Beratung so wichtig.

Heute steht zuerst für alle „Kennenlernen“ auf dem Programm. In einer fiktiven Kontaktanzeige entwerfen die SchülerInnen ihren „Traumpartner“. Blond, schön, schlank und intelligent muss die Frau ihrer Träume sein, da sind sich die Jungs einig. „Es kann aber genauso gut passieren, dass ihr euch in eine dicke Braunhaarige verliebt“, meint Annette Wilke. Kein Mensch sei makellos schön, und niemand könne das von anderen erwarten. Auch ein junges Mädchen im Rollstuhl dürfe sich einen Freund wünschen, aber in der Anzeige sollte sie ehrlich sagen: Ich sitze im Rolli. „Wichtig ist aber vor allem, dass man gemeinsame Interessen hat.“

Nicht jede Frau sieht aus wie Heidi Klum, das sehen auch die Jugendlichen ein. „Besonders erwachsene behinderte Männer haben oft falsche Vorstellungen von ihrer künftigen Partnerin, und sind dann enttäuscht, wenn es nicht klappt“, erzählt Annette Wilke. Sie hätten größere Probleme, eine Freundin zu finden.

Fast alle Themen dürfen sich die SchülerInnen aussuchen – nur Verhütung ist „Pflichtprogramm“. Auf einem Tisch liegen jetzt zwei übergroße Plastikvaginas inkluvsive Gebärmutter und Eierstöcken – dreidimensional und in Farbe, außerdem verschiedene Verhütungsmittel – von der „Pille danach“ bis zur Spirale. „Was macht man denn damit?“, will Ertan wissen. Er hält einen dünnen blauen Plastikring in der Hand und biegt ihn hin und her. „Was meinst du denn?“ fragt Wilke. „Ans Ohr hängen? Oder ums Handgelenk tragen?“ Lautes Gelächter. Auch Ertan grinst.

„Die Geschwindigkeit des Unterrichts ist langsamer als an Regelschulen. Die Jugendlichen haben zudem einen sehr unterschiedlichen Wissensstand. Wir versuchen deshalb, in kleineren Gruppen Lernschwache stärker miteinzubeziehen und mehr Antworten vorzugeben“, so Wilke. Manchmal setzt sie auch leistungsstärkere SchülerInnen als „Co-Lehrer“ ein. Zudem müssen die Beraterinnen Inhalte öfter wiederholen, auch da die Konzentration schneller abnimmt.

Da der blaue Ring für alle Jungen und Mädchen ein Rätsel ist, demonstriert Andrea Vogt den Gebrauch des Diaphragmas an einer Plastikvagina. „Den führt man so in die Scheide ein, und eine spezielle Creme tötet beim Sex die Spermien ab“. Ein pummeliger Junge wird beim Zugucken etwas blass um die Nase. „Ich habe schon gar keinen Appetit mehr auf Mittagessen“, brummt er, spitzt aber trotzdem seine Ohren.

Die Modelle und Bilder müssen für Behinderte besonders groß und „naturgetreu“ und mit großen Buchstaben versehen sein, sagen die Beraterinnen. „Viele lernen schon in der Schule etwas über die Anatomie und kennen sich da gut aus“, sagt Annette Wilke. Die Gefühlsseite werde aber oft vernachlässigt, über Probleme werde kaum gesprochen – nicht nur an Sonderschulen, sondern besonders auch an Gymnasien.

Die SchülerInnen sind am Ende zufrieden. „Voll interessant“, fand Ertan die Aufklärungsstunde. Vor der Gruppe über Sexualität zu sprechen, macht dem 17-Jährigen wenig aus. „Wir sind ja hier unter uns“.